„Das Netz als Feind“: Ein offener Leserbrief

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Den folgenden Leserbrief habe ich Adam Soboczynski zukommen lassen. Sein Artikel in der „Zeit“ beschäftigte sich mit dem Verschwinden des Intellektualismus im Zeitalter des Web 2.0. Titel: „Das Netz als Feind

Sehr geehrter Herr Soboczynski,

ich schreibe Ihnen als Redakteur eines großen Blogs in Deutschland (Anmerkung für die Leser hier: nicht dieses!). Dies ist eine Reaktion auf Ihren heutigen Beitrag in der „Zeit“ und da wir beide – wie ich sehe – fast derselben Generation angehören, würde ich Ihnen gerne ganz offen sagen: Sie haben völlig Recht.

Ich schätze, dass ebensolche Debatten bereits bei der Etablierung des Radios und später beim Siegeszug des Fernsehens geführt wurden. Damals entschied sich der Intellektualismus für das freiwillige Exil des Printmediums. Doch diese allerletzte Rückzugsmöglichkeit ist nun unwiderruflich in Gefahr: Nachrichten werden zu Content, genauso wie Buchseiten zu Displays verarbeitet werden. Eine unumkehrbare Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten ist.

Die Frage ist: Wohin also nun? Die gemütlichen Tage sind vorbei und die Menge der Leser, die frei von terminlichen Verpflichtungen die Muße haben, am Morgen eine Zeitung aufzuschlagen, wird in den kommenden Jahren diametral zu den Nutzerzahlen des Internet abnehmen. Ich frage noch einmal: Wohin also nun? Ich halte es für den falschen Weg, die Kapitulation auszurufen, zu resignieren und unter den effektvollen Buh-Rufen der digitalisieren Nation das Feld zu räumen.

Doch um den Blick für das Kommende zu schärfen, müssen sich die Intellektuellen zunächst einmal eingestehen, dass die Werte des Humanismus die Jahrtausendwende nicht überlebt haben. Der Grund ist einfach: Sie werden nicht mehr benötigt. Sie wirken nostalgisch in einer sich ständig beschleunigenden Welt, die auf dem Weg zu mehr Produktivität zwischen den beiden Polen Nützlichkeit und Unterhaltung herumdeliriert. Der Schüler braucht das ABC nicht mehr zu lernen, weil es eine Wikipedia gibt. Englisch hat sich in der Globalisierung die Krone der Weltsprache aufgesetzt – mehr wird nicht benötigt (und für alles andere gibt es Google Translation). Das literaturwissenschaftliche Studium ist wirtschaftlich nicht verwertbar – die Zielgerade lautet heute „Berufseinstieg als Trainee“ und nicht „Akademiker“. Ich bewerte diese Entwicklung ebenso wie Sie: als traurig. Doch es gibt kein Zurück mehr.

Für den Intellektuellen ist es höchste Zeit, sich neu zu definieren. Es ist sogar dringend erforderlich, dass dies geschieht. Die Zeit des Monierens ist vorbei. Anstatt dabei zuzuschauen, wie die Konsolidierung der Zeitungen voranschreitet, Redaktionen abgebaut, andere zu Kollektivbüros zusammengeschlossen werden, wie immer mehr reine Agenturmeldungen die Analysen ablösen, tarifliche Armutszeugnisse in Kauf genommen werden und der Presserat von Jahr zu Jahr mehr Rügen ausspricht, sollte er die Entwicklung endlich ernst nehmen und sich seinen neuen Platz suchen.

Ich weiß, dass dies eine schwere Aufgabe ist, zumal die besprochenen Entwicklungen in einem Zeitrahmen passiert sind, der nicht einmal zehn Jahre umspannt. Ich gebe in erster Linie auch nicht den Journalisten die Schuld an der Latenzzeit, sondern vielmehr den Verlegern, die sich sehenden Auges von einer Strömung haben überrennen lassen (der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck zum Beispiel, einer der Hauptinvestoren im deutschen Internet, hätte ich für die „Zeit“ mehr Weitsicht zugetraut).

Die Lösung? Treten Sie in einen Dialog mit der verloren geglaubten Zielgruppe. Der Intellektuelle muss verstehen, dass Kommunikation ab sofort keine monodirektionale Angelegenheit mehr ist. Nehmen Sie Ranickis Auftritt beim Deutschen Fernsehpreis: massenhaft multimediales Kopfschütteln auf der einen Seite. Auf der anderen? Stiller Applaus im Zigarrenzimmer der Intellektuellen (zugegeben: an diesem Abend habe ich mir auch eine Zigarre angesteckt). Der Stolz muss eine zeitlang der Effizienz weichen, wenn klassische Medien auch im kommenden Jahr noch eine Stimme haben sollen.

Der Intellektualismus muss überleben – in einer anderen Form vielleicht – doch er ist unentbehrlich. Über Jahrhunderte hat er den Bürgern die Kompetenz vermittelt, die Puzzleteile richtig zu deuten, zu legen und eigene Bewertungen von Sachverhalten zu erzielen. Er bot Orientierung. Der Intellektualismus ist die Pädagogik der Demokratie. Deshalb muss der Intellektuelle unbedingt verstehen, dass der Bildungsauftrag mit der Ankunft des Web 2.0 nicht getilgt wurde. Ebenso darf er sich nicht als leidende, anachronistische Nostalgiefigur stilisieren. Es mag schaurig klingen: Doch irgendwo hinter der simplifizierten Fassade von DSDS-Anhängern, YouTube-Fans und Silbermond-Hörern wartet sein Leser. Er sollte endlich in den Dialog treten.

Mit den besten Grüßen aus Köln

André Vatter

Update, 26. Mai 2009
Die Antwort aus Hamburg kam beinahe postwendent, kurz und knapp – aber immerhin:

Lieber André Vatter,
haben Sie herzlichen Dank für Ihren Leserbrief. Sie benennen, finde ich,
genau jenen konstruktiven Ausweg aus der Situation, den ich – auch der
Gattung, also der Polemik wegen – nicht ausbreiten wollte.

Es grüßt freundlich
Adam Soboczynski