Warten auf Gutenberg 2.0

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Jean Paul sagte einmal „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, woraus wir nicht vertrieben werden können.“ Und der Spruch hängt seit Jahren als Poster an den Bürowänden der deutschen Zeitungsbosse. Mir erschließt sich nicht, woher diese Hartnäckigkeit kommt, dieses Winden, dieses bornierte Festhalten an Gewesenem, aber eines ist sicher: Wenn die deutsche Printbranche sich auf ihrer heutigen BDZV-Jahrespressekonferenz auf einen rettenden Kurs eingeschworen hat, so wird sie die eingeschlagene Richtung geradewegs in die Scheiße reiten.

Es ist nicht kurz vor zwölf. Es ist bereits später Nachmittag für Deutschlands Printmetier und dennoch reiben sich die Verleger noch immer verträumt den Schlaf aus den Augen: „Bitte, noch einmal umdrehen. Nur noch ein wenig.“ Wer gehofft hatte, dass der Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger am heutigen Tag einen Masterplan zur Reform der einer Jahrhundertbranche vorlegen würde, wurde bitter enttäuscht. Es bleibt beim alten Spiel: Bestandsaufnahme und Schuldzuweisung.

Offenbar haben sich die Verlage nun erleichtert darauf verständigt, dass eines Tages das Electronic Publishing den Vogel abschießen wird. In den Verlagen werde intensiv an Inhalten, Design und Vermarktungsmodellen gearbeitet, sagte Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff. Die gesamte Branche bewege sich in einer „wichtigen Experimentierphase“. Es bestehe Konsens, dass die „neuen Tablets große Chancen“ böten, das klassische Geschäftsmodell der Zeitung, nämlich Vertriebserlöse plus Werbeerlöse, in die „digitale Welt“ zu übertragen. – In diesem ehrgeizigen Unterfangen stecken für das Jahr 2010 noch eine Menge Konjunktive. Gibt es konkrete Pläne? Gibt es Kooperationen? Ideen zur Umsetzung? Gibt es Best Case-Szenarien? Wenn Gedrucktes künftig auf dem Display gelesen wird, wie werden diese Inhalte aufbereitet? Wie lauten die Namen der Vertriebspartner? Werden auch alle an einem Strang ziehen? Wolff drückte sich um konkrete Ansagen und schickte lieber seinen IT-Kollegen Fuhrmann (Abteilung „Kommunikation + Multimedia“) auf das Podium, um die Euphorie mit Hinweisen auf die problematische Hardware-Vielfalt und das Preisdiktat der Hersteller vorsorglich zu dämpfen. Das war es. Das Buch wurde geschlossen und eine neue Runde im Wettwarten auf die rettende Reinkarnation Gutenbergs eingeläutet. Eines Tages wird er kommen, eine glänzende 2.0 vor sich hertragend, und eine ganze Branche aus der Misere herausholen. Aber nicht heute.

Um sich die Zeit bis dahin zu vertreiben, machten die Verleger das, was sie am besten können: Delinquenten benennen, ihre Vergehen offenlegen und mit erhobener Faust einen unerbittlichen Prozess fordern.

Feind Nummer eins: Die Tagesschau

Klingt komisch, ist aber so. Dr. Kai Gniffke, Chefredakteur der Tagesschau, ist der Brudermörder. Der gutgelaunte Hamburger hatte sich in der Vergangenheit unbeliebt bei seinen Kollegen aus dem Privatsektor gemacht: Erst hatte er eine sanfte Explansionspolitik im Netz angekündigt, dann wollte seine Redaktion noch eine wuchtige iPhone-App hinterher schieben. Es ist Gniffke zu verdanken, dass die Menschen scharenweise nicht nur von „RTL aktuell“, sondern auch von den Zeitungsbüdchen abrücken, so der BDZV. Zur Verdeutlichung hält Wolff einen Ausdruck (!) der tagesschau.de-Seite in die Runde. Es seien ARD und Co., „die mit ihren gebührenfinanzierten Onlineauftritten jede Marktentwicklung konterkarierten“, meinte Wolff zornig und kündigte an, mit „allen zur Verfügung stehenden juristischen und politischen Mitteln Front gegen diese Praxis“ zu machen. Im Umkehrschluss würde dies bedeuten, dass ein Boykott der 20-Uhr-Nachrichten (und der Online-Pendants) die Printbranche auf einen Schlag erlösen würde, nehme ich an. Das wettbewerbsverzerrende Verhalten der Nachrichtensprecher und ihrer Schreiber ist das Joch der Privaten und damit nicht länger hinnehmbar!

Feind Nummer zwei: Die Textdiebe

Es ist das schmierige Blogger-Gewürm, das sich wie ein Pilz auf den sauer erarbeiteten Content des Qualitätsjournalismus niedergelassen hat und ihn langsam überwuchert – natürlich nicht, ohne davon profitabel zu zehren. Hören wir Wolffs O-Ton: „Dass unsere Inhalte ohne jede Legitimation und Gegenleistung gewerblich genutzt werden, ist kein Zukunftsmodell für die deutsche Verlagsindustrie.“ Mit seinem Kampf gegen das Online-Plagiat will der Geschäftsführer gleich auch die Journalisten ins Boot holen, die Dank eines anständigen Leistungsschutzrechts lukrative Nebenverdienste in Aussicht gestellt bekommen. Dass Redaktionen ihre Themen wiederum im Netz finden, wird zwar nicht erwähnt, jedoch schiebt Wolff vorsorglich mehrmals hinterher, dass man vor allem gegen gewerblich orientierte Textdiebe vorgehen wird, um die schreibenden Leser nicht zu vergraulen. Jeder, der Zitate nicht ordnungsgemäß kennzeichnet und sein WordPress-Theme mit Google-Anzeigen schmückt, steht auf der Abschussliste.

Feind Nummer drei: Die Politik

Die Koalition hat mit ihren öffentlichen Gedankenspielen zur Erhöhung der Mehrwertsteuer für Printprodukte nicht nur eine ganze Branche in Schockzustand versetzt, sondern hat damit auch das hohe Gut der Demokratie leichtfertig aufs Spiel gesetzt! Um Himmels Willen! „Zeitungen sind wie Lebensmittel“, mahnt Wolff. „Sie sichern die Teilhabe und den Diskurs in einer pluralistischen und demokratisch verfassten Gesellschaft.“ Doch der BDZV krallt sich nicht nur an den sieben Prozent Mehrwertsteuer – er fordert eine Senkung! Niemand könne eine „plausible Antwort“ auf die Frage geben, warum es „überhaupt eine Steuer für politische Meinungs- und Willensbildung“ gebe, so Wolff. Recht hat er! Allerdings verschweigt er auch, dass es die Verleger waren, die Angesichts der Krise reflexartig und massenweise Journalisten auf die Straße gesetzt, Ressorts gestrichen, Mantelredaktionen errichtet und zu großen Teilen auf die Textwüsten der Agenturen gesetzt haben. Meinungsvielfalt, Aufklärung und die Analyse haben nicht den Sprung in das 21. Jahrhundert geschafft. Und sollte jetzt noch eine Mehrwertsteuererhöhung dazukommen, müssten die Verleger in ihrer betäubten Ideenlosigkeit ja noch mehr Leute feuern!

Feind Nummer vier: Die Deutsche Post

Warum die deutsche Zeitungs- und Zeitschriftenlandschaft den Bach runter geht? Wegen der Post! Genau genommen handelt es sich um Zumwinkels Erbe, ein Billigblättchen mit dem berauschenden Namen „Einkauf Aktuell“, das – eingeschweißt in Cellophan – gleich tonnenweise deutsche Hausflure verschmutzt. Seitdem die Wurfwerbesendung bei jedem Bürger samstags ins Haus flattert, kauft einfach niemand mehr den „Spiegel“ oder die „Super Illu“. Zu diesem Zeitpunkt der Pressekonferenz war man beim BDZV komplett in Rage: „Es ist eine Chuzpe, wie der Staat seine schützende Hand über ein Monopolunternehmen hält, bei dem er immer noch der größte Aktionär ist, statt die wirklich freie Wirtschaft und den Mittelstand zu fördern“, so Laskowski von der Abteilung Verlagswirtschaft. Der perfide Gratisschmöker der ehemaligen Deutschen Bundespost vergiftet den Verstand und hemmt den Griff zum Portemonnaie, da der nichtzahlende Kunde erstklassigen Content frei Haus geliefert bekommt. Um den privaten Verlagshäusern so richtig eins auszuwischen, habe sich die Post den besten Partner zur Seite geholt, den man im Qualitätsjournalismus für Geld haben kann: „Dass der ADAC als staatlich anerkannter gemeinnütziger Verein ab September 2010 das Post-Produkt ‚Einkauf Aktuell‘ mit redaktionellen Inhalten bestücken soll, ist der Gipfel der Wettbewerbsverzerrung“, polterte Laskowski. Aufmacher wie: „Die besten Winterreifen für kleines Geld!“, „Sparen in der Waschanlage“ und „Kleinwagen richtig beladen“ versetzen dem Printimperium den Todesstoß!

Jetzt einmal Spaß beiseite: Es ist nicht das erste Mal, dass der BDZV so einen Haufen aberwitziger Giftpfeile völlig wirr in die Welt spuckt. Als außenstehender Blogger mag die illustre Runde der Beschuldigten amüsieren, doch als Journalist komme ich aus dem Fremdschämen nicht mehr heraus. Die Pressekonferenz endete mit einer desaströsen Bilanz des vergangenen Jahres, die Werbeumsätze sind um unglaubliche 15 Prozent auf 700 Millionen Euro geschrumpft. Die Auflagen gingen um 2,5 Prozent zurück, im ersten Quartal 2010 waren es bereits 2,7 Prozent. Ehrlich gesagt geht mir das dumpfe Herumpoltern seit Jahren auf den Brownie, doch wirklich erschüttert mich, wie viele Leichen die Printindustrie auf ihrem Weg der Stagnation hinter sich lässt. Es wird lediglich reagiert, erwidert, gekontert – ohne auch nur einmal an sich selbst herunterzublicken und zu verstehen, wie tief der Sumpf aus gefährlichem Nostalgiegeflunker eigentlich geworden ist. Es ist zum Heulen.

Gehen wir also mal mit gutem Beispiel voran und lassen den Kopf nicht hängen. Für Schuldzuweisungen ist immer noch genug Raum. Hier habe ich drei kleine Tipps, wie – wenn das Ruder schon nicht herumgerissen werden kann – sich doch wenigstens das Segel in den Wind drehen lässt:

1. Hört zu, was sich die Leser wünschen. „iPad“ macht sich gut als Schlagwort, doch da kann es nicht aufhören. Fragt die Leute, was, wie und wo sie lesen wollen. Nicht jeder mag Apple, nicht jeder würde für Lokales zahlen, nicht jeder will auf einem Tablet lesen.

2. Die vergangenen Jahre haben tiefe Furchen im Qualitätsanspruch hinterlassen. Für den Journalismus gilt, was für alle anderen Branchen ebenfalls gilt: Qualität zahlt sich aus. Seht zu, dass sowohl eure Schreiber als auch eure Leser wieder etwas zu Denken bekommen.

3. Zieht an einem Strang. Paid Content ist eine heikle Angelegenheit, die nicht nur mit dem Kunden, sondern vor allem auch mit dem Wettbewerb besprochen werden muss. Dies ist nicht die Zeit für Gefechte via Pressemitteilungen, sondern für Kooperationen und gemeinsame Ideenfindung.

(Bild: Flickr – Fotograf: epsos)