Das Ende von Social Media rückt näher – wieder einmal

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Ach, Gott – noch so eine Horrormeldung: „Facebook und Co verlieren an Reiz“, titelt Pressetext und beruft sich dabei auf eine neue Studie von Forrester Research: „Die anfänglich weitgehende Begeisterung für soziale Medien hat überraschend nachgelassen.“ Mit den Ergebnissen der Messungen konfrontiert, orakelt das Medium über die „steigende Passivität“ der Nutzer in sozialen Netzwerken – Kollege Klaus Eck kommt auch zu Wort und sorgt für eine sachliche Note.

Worum geht es? Forrester hat eine globale Untersuchung im Social Media-Sektor durchgeführt. Insgesamt wurden die Daten von mehr als 275.000 Usern aus Nordamerika, Europa und Asien ausgewertet. Im Mittelpunkt der Studie stand das Engangement-Verhalten der Nutzer – und das lässt offenbar mittlerweile zu Wünschen übrig.

Forrester unterteilt darin das Netzpublikum in Produzenten (Content-Lieferanten) und Sammler (Content-Konsumenten) – zwischen beiden Gruppen scheint es mittlerweile eine diametrale Entwicklung zu geben. Zwar wachse das Social Web Tag für Tag (im vergangenen Jahr um rund elf Prozent in Europa und acht Prozent in den USA), doch trotz der steigenden Mitgliederzahlen würde die Anzahl der aktiven Produzenten in Social Networks frappant stagnieren. Anders ausgedrückt: Der Kreis der Zuschauer wächst, während jener der Sender gleich bleibt.

Nichts Neues

„Ein ausbleibendes Wachstum im Bereich der Social Creation lässt sich mit dem Ausbleiben von Ideen, Inhalten und Perspektiven erklären“, meint Studienleiterin Jacqueline Anderson dazu. So habe die Untersuchung beispielsweise ergeben, dass ein Drittel aller US-Amerikaner mit Internetanschluss regelmäßig YouTube besuchen würde – doch nur zehn Prozent aller Nutzer würden ihre selbstgemachten Videos auch auf die Clip-Plattformen hochladen. Sie schließt daraus, dass das Interesse an User Generated Content seinen Zenit erreicht habe und… ja was eigentlich? Hier bricht die Forrester-Pressemitteilung plötzlich ab, wer sich die gesamte Studie zu Gemüte führen möchte, kann dies für 499 Dollar gerne tun. Doch ich bezweifele sehr stark, dass hier abschließende Prognosen oder gar Bewertungen zu finden sind.

Also, was wir laut Forrester bislang haben, ist ein ungebremstes Wachstum in den sozialen Netzwerken – und offenbar eine ebenfalls wachsende Gruppe zurückgelehnter Content-Sauger, die sich im Netz unterhalten lassen. Und jetzt die große Überraschung: das war schon immer so! Werfen wir einen Blick in die ARD/ZDF-Onlinestudie 2010. Darin heißt es:

Communitys sowie Video- und Fernsehinhalte im Netz werden immer beliebter, wobei das Anschauen von Onlinevideos für die meisten Nutzer weitaus wichtiger ist als viele Web-2.0-Aktivitäten. (…) Auch sinkt das Interesse an aktiver Teilhabe an Blogs, Twitter und Co. vor allem bei der jüngeren und mittleren Generation. Das „Mitmach-Netz“ bleibt so weiterhin beschränkt auf eine kleine Gruppe von Aktiven, die publizieren und kommunizieren, was von vielen abgerufen wird.

Kaum Platz für statische Inhalte

Am besten lässt sich das Phänomen im Blog-Sektor nachzeichnen, wo seit Monaten die großen WordPress-Plattform Rückgänge in den Verlinkungen ertragen müssen. Auch musste beispielsweise Basic Thinking zusehen, wie die Anzahl der Kommentare direkt auf der Plattform langsam abnimmt. Grund ist kein zunehmendes Desinteresse der Leser, sondern eine Rekonfiguration der Vertriebskanäle, die immer seltener in Gestalt von RSS-Readern daher kommen, sondern vielmehr in Form von „Gefällt mir!“: Es ist nun einmal leichter, ein Status-Update zu veröffentlichen, als einen eigenen (vielleicht entgegnenden) Blogpost zu verfassen. Das Social Web verändert sich, wird immer dynamischer – nicht zuletzt hat der Siegeszug des Echtzeitnetzes auch dazu beigetragen, dass statische Blogposts lediglich winzige Ausschnitte des status quo einer Sache widerspiegeln können – die Entwicklungen gehen direkt nach dem Klick auf den „Veröffentlichen“-Button meist rasant weiter. Der Content des neuen Social Web besteht aus „Thumbs up!“, „Lest mal hier!“, „Ich rege mich riesig darüber auf, was XYZ da schreibt!“, „Unglaublich!“, „Kennt jemand noch gute Links dazu?“. Davon gibt es laut Online-Studie im Gegenzug eine ganze Menge.

Noch etwas: Das Web 2.0 war immer eine Spielwiese der Early Adopters, was besonders die technikafinen Nutzer angesprochen hat. Das Social Web wächst nun langsam nach, doch wer sind eigentlich die „Neuen“? Nun, eben nicht „Produzenten“, sondern (sollten wir die Terminologie beibehalten:) die „Konsumenten“. Die am schnellsten wachsende Gruppe auf Facebook sind Damen über 50 Jahre. Dabei handelt es sich keinesfalls um Content-Schnorrer, sondern um wertvolle Mitglieder der Community. Auch, wenn sie keine „Inhalte“ aktiv in das Netzwerk einbringen, so sind sie doch als Knotenpunkte für Kommentare und Verlinkungen unentbehrlich. Sie regen Diskussionen an, die wiederum den Nährboden für neue kreative Arbeiten liefern.

Eine neue Definition von „Content“

Die Definition von „Content“ muss überdacht werden, da dieser mittlerweile vieles mit einbezieht, was früher landläufig unter dem Begriff „Meta-Rauschen“ subsumiert wurde. Ein Kommentar ist Content. Man werfe nur einen Blick auf die Wirtschaft, die genau hier immer häufiger mit ihrer Vermarktungsstrategie ansetzt.

Nur drei Prozent aller deutschen Community-Mitglieder schießen also mindestens einmal die Woche eigene Videos in Netzwerke. So what? Global betrachtet reicht dies locker aus, um aus YouTube die größte Videosammlung der Welt und nebenbei die zweitgrößte Suchmaschine des Universums zu machen: „Auf YouTube werden jeden Tag zwei Milliarden Videos abgespielt und Hunderttausende von Videos hochgeladen. In jeder Minute laden unsere Nutzer 24 Stunden Videomaterial hoch“, teilt Google mit. 24 Stunden Videomaterial in 60 Sekunden – alle TV-Sender der Welt kommen nicht auf diese Zahl.

Das Social Web hatte niemals den Anspruch, die größte Contentmaschine der Welt zu werden. Netzwerke sind und waren in erster Linie Projektionsflächen für etablierte Publisher: Games, News, Videos, Bilder – das alles wird in den Communities kritisch reflektiert – und bei Bedarf auch mal parodiert. Und siehe da: es gibt wieder ein neues Video auf YouTube. Die Behauptung, dass „Facebook seinen Reiz verloren“ habe, ist also ein Schlag ins Wasser. Die Diskussion lebt und nur darum geht es.

Update, 15 Uhr

Ach, die Kollegen von Spiegel Online sind auch schon wach und nehmen sich der Forrester-Studie an. Ein netter Ansatz – dann rutscht die Argumentation jedoch ab, um im altbewährten „Ich will das hysterische Nicken der Online-Leser einkassieren“-Metier scheppernd zu landen: „Das Tagesgeschäft füllen Klatsch, Tratsch und Social Media“, so das Fazit. „Gossip geht halt immer“, meint der Autor Grieß. Joah. Und unreflektiertes Polemisieren auch.

Grafik: ethority

15 Kommentar

  1. Ganz genau!! Es war wirklich schon immer so … ein Massenphänomen, das nicht nur erst seit dem Internet seine Gültigkeit besitzt sondern auch im „klassischen Offlinebereich“ …. bei jeder größeren Gruppierung. Auch schon die so bekannte Social Technographics Studie von Forrester (siehe auch Groundswell) zeigte das Gleiche.
    Nur sehr Schade, dass das offensichtlich im Interview niemand wußte bzw. darauf eingeht.

  2. Eben, das Ganze ist vollkommen normal und überhaupt nicht ungewöhnlich. Überraschend ist aus meiner Sicht eher, wie viele Produzenten von Content es gibt.

    Diesbezüglich gehe ich davon aus, dass der Reiz zum Publizieren auf mittlere Sicht doch stark zurückgehen wird. Die „echten“ Inhalte-Produzenten, zu denen ich auch uns Blogger zähle, produzieren natürlich auch in Zukunft fleißig „echte“ Inhalte. Aber was das angesprochene Rauschen und das Publizieren von Belanglosigkeiten (<— so weit lehne ich mich mal aus dem Fenster), wird der Reiz nachlassen. Das ist nicht schlimm.

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  4. Hm. So richtig wirklich überraschend sind diese Ergebnisse zum Nutzerverhalten ja nicht (siehe eben jene ARD/ZDF-Online-Studie). Aber auch Prof. Dr. Schulmeister oder das Hans-Bredow-Institut haben diese Entwicklungen schon vor längerer Zeit nachgewiesen. Aber jeder User hat nun mal unterschiedliche Angewohnheiten. Der Großteil der Konsumenten genießt und schweigt eben, ein geringer Teil ist aktiv dabei und verfasst selbstständig Artikel oder Kommentare (wie ich jetzt gerade). Ich stimme dir in puncto veränderter Kommentarkultur voll zu und frage mich gerade in diesem Moment, ob es wohl darin liegt, dass wir mit immer mehr Informationen und Artikeln, Statements, Kommentaren und was weiß ich noch auf eine gewisse Art und Weise überfordert werden und uns daher – schon alleine aus zeitökonomischen Gründen – auf einfache Likes beschränken. Abgesehen davon – schon komisch, dass unter den Top 10 Websites in Deutschland alleine vier Social Media Websites sind – mit steigender Ranking-Tendenz – von einem Ende kann da wohl kaum die Rede sein….

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