Facebook-Mail: Der Tag, an dem Mark Zuckerberg die E-Mail kastrierte

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Das war ein Donnerwetter, ich möchte nicht wissen, wie viele IT-CEOs sich am Montagabend erst einmal eine tröstende Flasche Wein aufmachten. Eine von den alten Gaumenkitzlern, eine die im häuslichen Weinkeller ganz unten lag – vergessen, verstaubt, beinahe schon sirupartig. Facebook hat es getan. Zuckerberg hat sich an eine der ersten Institutionen des WWW herangewagt und proklamierte am Montagabend die nächste Stufe der Evolution. Längst überfällig, möchte man meinen. Doch wo einige der Innovation fortbleiben, dürfen andere die Hebel bedienen, so ist das eben im Geschäft. AOL hat bereits einen Tag zuvor kalte Füße bekommen, Yahoo! – mit seinen gerade einmal 270 Millionen verwalteten E-Mail-Konten – dürfte sich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls den Trauerflor an Revers gesteckt haben. Facebook hat die Power von 550 Millionen Mitgliedern in den Ring geworfen, das wird einige Umwälzungen geben, von denen selbst Google Notiz nehmen wird. Ich habe mir die vorläufige Feature-Liste von „Facebook-Mail“ angesehen und möchte dies als Anlass nehmen, einmal meinen Senf dazu zu geben.

Die omnipotente Mailbox

Bravo! Natürlich war sie längst überfällig, eine Kommunikationszentrale, die alle Medien in sich vereint. Tatsächlich ist es im Jahr 2010 nicht länger nachvollziehbar, weshalb ich für den Mailversand einen Client wie Outlook öffnen muss, für Instant Messaging wiederum ICQ oder Vergleichbares. Oder warum ich für Direktnachrichten den Menüpunkt im Social Network finden und für SMS das Handy zücken muss. Eine omnipotente Mailbox ist praktisch für uns (sofern die Telcos gescheite Kooperationen für das SMS-Geschäft nachliefern) – in jedem Fall aber profitabel für Facebook, das es damit geschafft hat, die Mitglieder dauerhaft an die Plattform zu binden. Und zwar direkt im Browser, wo die Werbewolke tickt.

@facebook.com bricht die Tradition

Es ist nur konsequent, dass wir nun alle @facebook sind. Zur Stunde weiß ich noch nicht, ob das Unternehmen einen zeitnahen Rollout der frisch eingekauften Domain fb.com plant, was ein wenig fetziger wirkt – doch es ändert nichts an der Sache. Aufregender ist die Ankündigung, künftig im Mail-Verkehr auf „unnötige“ Accessoires wie Betreff, CC oder BCC verzichten zu wollen. Facebook verkauft den Nutzern dies als moderne Form des Mailings. Doch ist es das? Subjects sind das Tagging von Mails. Ohne eine solche Orientierung sind wir gezwungen, jede Mail erst zu öffnen, ehe wir ihren Inhalt einschätzen können. Schlecht für mich – gut für Facebook, das gerade wieder zwei Page Impressions (Öffnen und Schließen) einsacken konnte.

Die Social Inbox

„Wenn ich meine Mails abrufe, sehe ich, wie die Nachricht meiner Mutter zwischen Kontoauszügen und Rechnungen erdrückt wird. Das können wir ja wohl besser!“ – so lautet die Exposition zur neuen „Social Inbox“. Deshalb hat sich Facebook dazu entschieden, Mails standardmäßig nur dann als relevant zu klassieren, sofern sie von meinen Freunden stammen. Allein diese Mails werden zur Inbox weitergeleitet, alles andere landet in einem improvisierten Spam-Ordner. Ja, das macht Sinn. Was ist allerdings, wenn ich tatsächlich mal einen Blick in meine Rechnungen werfen möchte? Es könnte ja sein, dass ich ein Interesse daran habe, zu wissen, wer in den kommenden Tagen auf eine fällige Zahlung wartet. Nutzer müssen diese Art von Nachrichten erst aktiv durch einen Klick nobilitieren und ihnen so Eintritt in die Inbox gewähren. Das ist ein Mausdrücker und regt nicht weiter auf. Doch Facebook verfügt heute über 550 Millionen Mitglieder. Da stellt sich schon die Frage, wer künftig seinen Kredit für den abgefeilschten Flachbildfernseher tatsächlich rechtzeitig ablöst.

Der soziale Kontext und die Mail-History

Apple hat uns diese Funktion einstmals als Highlight verkauft: Die SMS-Konversationen mit Kontakten werden jeweils chronologisch sortiert. Laut Facebook werden die meisten Mails heute entweder komplett ohne Betreff gesendet oder beginnen mit einem frivolen „Hi!“ oder „Yo!“. Facebook sortiert Mails daher künftig nach Nutzern – nicht nach Inhalten. Macht das Sinn? Ja. Wenn Text-Messaging einem Chat gleicht, wenn zwei Nutzer sich gegenseitig mit SMS-Nachrichten bombardieren, wenn da das eine Mädel auf der Couch in Idaho sitzt und das andere sich beim ersten Blind Date auf die Toilette verzogen hat, um sich schwesterlichen Rat einzuholen. Dann macht das Sinn. Die Alltagserfahrung weicht davon fundamental ab, denn hier gibt es keine oder nur selten eine nahtlose Kommunikation. Wie oft „beantworte“ ich SMS, die meist Tage (wenn nicht Wochen) alt sind, deren Text da lautet: „Ich bin gleich da.“

Und das Fazit? Facebook ist der Gewinner. Ich hege keine Zweifel, dass das Vorhaben sich nach den Plänen entwickeln wird. Die Leute verbringen heute schon so viel Zeit auf Facebook – sobald der Sammeldienst für Gmail, Yahoo und Konsorten eingerichtet ist, gibt es kaum noch einen Grund, die Plattform überhaupt zu verlassen. Für uns bedeutet das Komfort, für Facebook im Gegenzug die Werbe-Dollar. Zuckerberg wird jedoch hier nicht Halt machen. Noch wurde der Frage nach aktivem Content-Targeting vehement widersprochen. Anders als Gmail will Facebook nicht die Mails nach Inhalten sondieren, um kontextsensitive Werbung auszuliefern. Aber… hallo? Progression ist angesagt. Ob Facebook diese Festung des Datenschutzes lange wird halten können, ist mehr als diskutierbar.

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