Al Jazeera und Co.: Stell dir vor, es ist Information War und es ist uns scheißegal

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Es wird nicht offen ausgesprochen (außer vielleicht von George W. Bush), doch insgeheim vertritt der Westen die Ansicht, dass man selbst durch die Aufklärung das Mittelalter überwunden habe – wohingegen der Nahe und Mittlere Osten noch darin gefangen sei. An der Theorie ist was dran, das muss selbst der liberalste Weltbürger eingestehen. Die Religion steht noch in vielen arabischen Staaten der Freiheit der Menschen entgegen. Doch die Zeit der Querdenker, der intellektuellen Individualisten, die einstmals die Kraft hatten, ein System zu stürzen, ist vorbei. Heute bestimmt der globale Menschenschwarm die grobe Richtung, die wir Zukunft nennen und so ist es unmöglich geworden, einzelne Stimmen in diesem Gewirr auszumachen. Außer vielleicht die der Medien.

Die Aufgaben der Presse lauten: berichten und analysieren. Der Journalismus soll die Aufklärung zu einer ständigen Einrichtung machen, uns unabhängig informieren und uns Schlüsse aus den Entwicklungen für unsere Leben ziehen lassen. Dies zumindest war der Urgedanke, der schon lange unter einer Decke aus Werbung, PR und politischem Kalkül verschwunden ist. Man könnte meinen, dass wir gesättigt sind von der hart erkämpften Unabhängigkeit und uns die Suche nach ein wenig Entertainment – eben: Ablenkung – wichtiger geworden ist.

Was in Nordafrika geschah und noch geschieht, ist keine lokale Revolutionsserie, die ein paar TUI-Kunden zum Storno zwingt. Sie ist eine politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwälzung, deren Ausläufer gebührend hart an unser westliches Ufer schlagen werden. Wie berichtet, geht dies vielen heimischen Medien galant am Arsch vorbei: Regimestürze gibt es ja offenbar alle paar Monate – „Germany’s next Topmodel“ kommt nur einmal pro Jahr. Hier muss man klare Prioritäten setzen.

Doch die Medienschelte haben bereits andere übernommen, ich möchte viel lieber ansetzen zu einem ernsten „Obacht!“ – denn jetzt ist es wirklich Zeit dafür. Ich bin bekennender Medien-Junky und ich gehe sogar soweit, zuzugeben, dass mich die Form der Berichterstattung zuweilen mehr interessiert, als ihr Inhalt: Dann gibt es parallele Livestreams, minütlich neu geladene Nachrichtenseiten und regelmäßige Twitter- und Facebook-Scans. Die Revolution in Libyen hat mir die Sache stark vereinfacht. Denn hier gab und gibt es nur eine Quelle und die lautet „Al Jazeera“.

Der arabische Sender war lange Zeit verpönt. Mitte der Neunziger entstanden, avancierte er nach dem 11. September zum vordergründigen Sprachrohr für Al Quaida. Al Jazeera beherbergt bis heute die einzige Redaktion, die nach dem Einsturz des World Trade Centers ein Interview mit Bin Laden führen durfte (das aber offiziell nie ausgestrahlt wurde – naja, in Teilen von CNN). Das Bush-Kabinett brandmarkte den Sender und nannte ihn „anti-amerikanisch“. 2006 wurden die USA dann milder, denn dies war das Jahr, in dem Al Jazeera English (AJE) startete und fortan aktuelle News aus dem arabischen Raum brachte: „Einschalten kann ja nicht schaden“, dachte man sich und so lief AJE auch kürzlich im Weißen Haus, als das ägyptische Volk den Aufstand probte. Heute ist Al Jazeera – zumal in der englischsprachigen Fassung – aus dem globalen Mediengeschäft nicht mehr wegzudenken. Der Sender macht einen erwachsenen Eindruck, einen mehr als objektiven. Die Prioritäten liegen in der Berichterstattung und in der Analyse. Moment… war das nicht? Genau.

Vor ein paar Tagen musste Hillary Clinton vor dem U.S. Foreign Policy Priorities Committee Rede und Antwort stehen. Es wurde viel schwadroniert, interessant wurde es plötzlich, als sie ein kleines Referat über den US-Journalismus im Rahmen der aktuellen News-Coverage hielt, der sie resignierend – man kann es nicht anders sagen – totales Versagen vorwarf:

Ich wiederhole die wichtigste Aussage und weise gleichzeitig noch einmal auf das dezente Schulterzucken der US-Außenministerin hin:

In fact viewership of Al Jazeera is going up in the United States because it’s real news. You may not agree with it, but you feel like you’re getting real news around the clock instead of a million commercials and, you know, arguments between talking heads and the kind of stuff that we do on our news which, you know, is not particularly informative to us, let alone foreigners.

Okay, dieses Statement kommt von oberster politischer Stelle (da sie Vizepräsidentin ist: von zweitoberster s.u.) und lässt uns mit der Frage zurück: Warum ist Al Jazeera soviel besser in dem, was sie machen? Der Sender hat zweifelsohne einen ungemeinen Vorteil, denn er hat seine Studios dort, wo andere Rundfunkinstitutionen mühsam und kostenaufwändig ihre Korrespondenten hinschicken müssen. Was noch? Al Jazeera profitiert beträchtlich vom Internet. Die westlichen Netzbetreiber sind seit Jahren bemüht, AJE den Hahn abzudrehen oder sie gar nicht erst in die Frequenzen zu lassen. Die billige Ausrede lautet, dass die Kanäle schon überfüllt seien und – „Oh, da kommt mein Bus.“ Einigen US-Bürgern geht dies gegen den Strich und so haben 45.000 von ihnen ihren Kabelnetzbetreibern bereits Protestmails geschrieben. Der Reichweite von AJE tut dies dennoch keinen Abbruch: Gestreamt wird 24 Stunden am Tag im Netz und per App ebenfalls kostenlos auf mobilen Endgeräten wie dem iPhone oder Android-Smartphones. Gibt es denn noch einen Faktor, der den Erfolg ausmacht?

Ja, richtig: Al Jazeera macht Journalismus. Während hierzulande Koch-Shows liefen, zeigte der Sender ungefiltertes Live-Material aus Kairo und Alexandria – keine nervigen Moderatoren, keine Selbstdarstellung, keine Wetterwerbesendung, keine hastig eingeladenen Pseudo-Psychologen, die per Ferndiagnose über Mubaraks Kindheit unkten. Die teuren Streams wurde nicht abgebrochen, weil man wusste, dass dies ein monumentaler und bisweilen lebenswichtiger Moment war – unser Mauerfall verwandelte sich dem gegenüber binnen Minuten in einen bunten Kindergeburtstag.

Die Erfolgsformel von Al Jazeera lautet „Qualität“. Und die schlechte Nachricht für unsere westlichen Medien lautet: die arabische, die chinesische und auch die russische Presse kommt langsam auf den Geschmack, genau in diese Richtung weiterzuarbeiten. Das Perfide daran ist, dass in diesen Teilen der Welt künftig die Musik spielen wird. Das Wirtschaftswachstum Asiens (Stichworte Öl und IT) ist nicht zu bremsen und unsere Tagesschau-Moderatoren täten gut daran, schon jetzt ihr Arabisch und Mandarin aufzupolieren. Die östliche Presse erwacht gerade mitten in einer Phase der Aufklärung und sie ist hungrig danach. Sehr hungrig. Und ich bekomme hier noch immer Pressemitteilung deutscher Privatsender mit dem Titel: „Aus für Marvin Cybulski bei „Deutschland sucht den Superstar“ – Topquote von 34,9 Prozent beim jungen Publikum / Nina Richel bricht nach Mottoshow zusammen.“

„Niveau ist keine Hautcreme“, liebe Medien des Westens, die ihr euch noch immer anmaßt, relevante Stimmen der globalen Welt zu sein. Denkt darüber nach. Aber nicht zu lange. Wer so weitermacht oder gar stehen bleibt, schafft sich selbst ab.

Hier nun ein TED-Auftritt von Wadah Khanfar, dem Chef von Al Jazeera:


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