Der Early Adopter und seine Panik vor dem virtuellen Identitätsverlust

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Ich war eben drei Mal duschen, was für ein Tag! Der Run auf Google+ förderte heute schlimme Szenen zutage (…aus guten Gründen entfernt…). Was für ein Rempeln, ein Drängen, ein Quetschen! – alle wollten hinein in Googles neues soziale Netz. Ich glaube, ich habe heute fünfzig Invites an wildfremde Menschen verteilen müssen, auf eBay werden Einladungen gerade für bis zu 75 US-Dollar (!) vertickt. Jeder will dabei sein, ganz vorne, im Herzen des sozialen Googleversums. Und man kann es ja auch verstehen: Der Suchmaschine ist wirklich ein potenzreiches Paket gelungen, noch immer ein wenig fragmentiert und vor allem von allen anderen etablierten Diensten isoliert – aber gelungen.

Ich habe mich gefragt, woher dieser Run rührt, dieses „Erster!“-Geschrei. Neugierde? Das ist möglich. Auch Profilierungssucht wäre ein möglicher Grund. Dann ging ich eine rauchen, schüttelte den Kopf und dachte an einen Dialog wie diesen hier:

Arzt: „Dann legen Sie sich bitte erst einmal hin.“
Patient: „Ich will mich nicht hinlegen! Ich bin aufgebracht!“
Arzt: „Aber eben sagten Sie doch noch, Sie seien ‚zutiefst beunruhigt‘ und ‚traurig‘.“
Patient: „Das stimmt ja auch!“
Arzt: „Legen Sie sich hin.“
Patient: „Okay.“
Arzt: „Also?“
Patient: „Herr Doktor, ich fühle mich schlecht, mir geht es mies. Ich fühle mich schlimmer als Tantalos. Der Typ, der den Stein immer wieder den Berg…“
Arzt: „… Sysiphos.“
Patient: „Was?“
Arzt: „Es war Sysiphos, der den Stein immer wieder den Berg hinaufrollen musste, als Strafe der Götter. Tantalos wurde die Leber zerhackt.“
Patient: „Das ist mir egal.“
Arzt: „Worum geht es überhaupt?“
Patient: „Google+ ist heute gestartet.“
Arzt: „Aha.“
Patient: „Ein neues Social Network, so etwas wie Facebook – nur von Google.“
Arzt: „Und Sie…“
Patient: „Und ich stehe wieder ganz am Anfang!“
Arzt: „Ich kann Ihnen nicht folgen.“
Patient: „Ich habe 798 Freunde auf Facebook. Siebenhundertachtundneunzig! Und über 2.000 Follower bei Twitter.“
Arzt: „Beeindruckend. Und die kennen Sie alle?“
Patient: „Was? Nein, aber darum geht es auch nicht. Ich stehe wieder am Anfang. Alle Anstrengungen umsonst, all die Zeit, die Gespräche, die Arbeit – alles umsonst.“
Arzt: „Mir ist immer noch nicht so ganz klar, woher Ihr Zustand rührt.“
Patient: „Mein Influence! Er ist fort. Von einen auf den anderen Moment weggewischt.“
Arzt: „Weil Ihre Konten bei Facebook und Twitter gelöscht wurden!“
Patient: „Nein! Weil es Google+ gibt. Verstehen Sie: Hier spielt nun die Musik. Meine mühsam aufgebaute Identität ist fort. Mein Leben verblasst vor meinen Augen!“
Arzt: „Tja, was ein Pech, was?“
Patient: „Sie nehmen mich nicht ernst!“
Arzt: „Ich, also… naja.“
Patient: „Ach, was frage ich Sie überhaupt. Sie haben keine Ahnung.“
Arzt: „Reden Sie weiter.“
Patient: „Ich habe mich heute dort angemeldet. Wissen Sie, was mich dort begrüßt hat?“
Arzt: „Na?“
Patient: „Eine Null! Eine dicke, runde, fette Null!“
Arzt: „Ach, das meinen Sie.“
Patient: „Exakt. Wenn Google+ der nächste Renner wird, muss ich mir alles wieder von vorne aufbauen.“
Arzt: „Sie dachten, Sie seien bereits etabliert.“
Patient: „Ich hatte alles! Renommee, Einfluss – alles! Und jetzt habe ich nichts mehr. Ich muss wieder von vorne anfangen.“
Arzt: „Vielleicht wird Google+ aber nicht der nächste Renner. Vielleicht haben Sie ja Glück und…“
Patient: „Was meinen Sie, wie ich darauf hoffe. Ich war seit der Beerdigung meiner Mutter nicht mehr in der Kirche. Aber heute. Alles andere wäre mein Untergang!“

Ich glaube, dass hier der Ursprung von Googles heutigem Erfolg herrührt. Was ist, wenn Facebook und Twitter tatsächlich im Schatten des neuen Dienstes verblassen würden?

Ich nehme mich in diesem Fall eigentlich wirklich ungern aus, aber ich habe angesichts von Googles Bemühungen im Social Web ebenfalls den Daumen gesenkt. Und ich glaube, dass ich es argumentativ gut belegen konnte. Doch viele andere lachten pro forma: „Haha, Google schafft das nie, weil… Na! Haha!“ Das Neue muss einfach bekämpft werden, da alles Neue uns den Boden unter den Füßen wegziehen könnte. Und man steht dann wieder am Anfang.

Nachdem klar war, dass Google+ entgegen vieler Meinungen tatsächlich Potential besitzt und erste Medien das Wort vom „Facebook-Killer“ in Berichten fallen ließen, wuchs die Panik und man konnte das Unvermeidliche wirklich nicht mehr verhindern: „Was passiert sonst mit meinem Influence?“

Der heutige Tag hat mir drei Dinge gezeigt: Erstes gibt es im Social Web kein Zuhause. Wir können uns an Dienste erstaunlich schnell gewöhnen, in ihnen leben und sie zum Teil unseres Alltags machen. Doch niemals sind sie eine unumstößliche Konstante. Tatsächlich können sie schneller wieder von der Bildfläche verschwinden, als sie gebraucht haben, um zu entstehen: auch innerhalb einiger Monate. Zweitens wird damit deutlich, dass es neben dem Web 2.0 respektable Werte braucht, um die Abhängigkeiten zu minimieren. Dies gilt in erster Linie auch für Unternehmen, die in diesen Tagen so gerne auf den Hype-Train „Social Web“ aufspringen, um sich Abkürzungen zu erhoffen. Wenn die Dinge hier wacklig werden und es Zeit ist, Neues aufzubauen, so gelingt dies nur, wenn auch abseits des Netzes ordentlich Substanz vorhanden ist. Und drittens impliziert diese Furcht vor dem plötzlichen Identitätsverlust eine Form von Innovationsfeindlichkeit. Wir wollen schlichtweg kein besseres Twitter, kein funktionaleres Facebook. Weil wir unsere Leute nicht verlieren möchten. Nun ist es aber geschehen und jedermann schlagartig davon besessen, die alten Identitäten – und mit ihnen das Renommee und den Einfluss – an das neue Ufer hinüberzuretten.

36 Kommentar

  1. Auch Profilierungssucht wäre ein möglicher Grund.

    Ich neige dieser Erklärung zu. Angemeldet habe ich mich aber trotzdem schon.

  2. Das sollte eigentlich den meisten Junkies bereits seit mySpace — spätestens aber StudiVZ — bekannt, vielleicht sogar bewusst sein 🙂

  3. ich habe heute den ganzen nachmittag google plus getestet – über den Dienst an sich will ich mich jetzt gar nicht so sehr äußern. aber ich habe mich nicht zuhause gefühlt. das kam dann wieder bei facebook und bei twitter. und als unwichtiger wicht im web mit wenigen freunden (270) und followern (150) muss ich mir um influence keine gedanken machen. es muss also noch was anderes sein.

    just my2C, severin

  4. Identitätsverlust!
    Darauf soll mal einer kommen 🙂
    Es ist doch schon eh zu spät für die Generation mit Onlineanschluß.
    Wieso aus dem Fenster schauen, wenn man es googlen kann.
    Wieso Freunde treffen, wenn es facebook gibt…
    Toller Artikel!
    Hast du für mich auch ein Invite-Code übrig?

  5. @severint: Jeder hat vielleicht andere Gründe. Mir schien der obige nur sehr einleuchtend.
    @ek: Danke, Invite geht gleich raus.
    @ruhrgebeat: Ich wollte nicht „Loveparade“ schreiben…

  6. „Erstes gibt es im [Social] Web kein Zuhause.“

    …aber deshalb heißt es doch HOMEpage! 😉

    Im Ernst… vielleicht sind VZs, Facebook, Google+ vergleichbar mit Lieblingskneipen, in die man eine Zeit lang, manchmal Jahre geht… weil es immer etwas Neues gibt, weil man alte und neue Leute trifft, weil man sich ein Stück weit zuhause fühlt.

    Und dann eröffnet da diese neue hippe Kneipe über die alle sprechen… und einige rennen sofort hin, begutachten, bewerten, ziehen andere mit sich…

    und wenn man nicht zu diesen gehört, weil man unter Profilierungssucht oder schlichtweg Neugierde leidet, bewertet man die Erfahrungen der „anderen“… welche Neuerungen, welche Gründe, welche whatever… vielleicht schaut man sich dann selbst mal um… und dann muss man sich früher oder später entscheiden… bleibe ich „zuhause“ oder folge ich dem neuen hippen Tross?

    So in etwa wie die Abwanderung von den VZs zu Facebook.

  7. Eine interessante These, aber ich glaube du lässt zumindest eine Sache vollkommen außer Acht, dass insbesondere bei denjenigen Personen, die über eine relativ hohe Zahl von Followern verfügen (hierunter verstehe ich in diesem Zusammenhang auch die „Freunde“ bei facebook, weil diese oftmals nichts Anderes sind, da es keine auf beidseitigen Kenntnissen über den jeweils anderen basierende Verbindungen gibt) in vielen Fällen auch eine bereits im Vorfeld angelegte private homepage die Rolle eines digitalen Zuhauses erfüllt hat und sie mmn auch noch immer erfüllt, auch wenn die reine Aufenthaltszeit auf anderen Seiten höher sein mag. Am Ende sind uns doch oder sollten uns doch immer die Dinge am wichtigsten sein, die wir selber geschaffen haben und nicht irgendwelche profilformulare auf externen Seiten.

  8. Ich sehe das ähnlich wie André. Google+ hat potential, gefällt mir technisch und funktional sehr gut. Allerdings dürfte das die meisten Leute nicht sonderlich interessieren, sie haben ja ihre Bekannten und Freunde schon bei Facebook. Wieso also noch ein Netzwerk? Post, Share, Comment – das reicht doch an Funktionalität. Die mangelnde Sichtbarkeit von Privatsphären Einstellungen stört leider die Wenigsten. Das ist ein Punkt an dem google+ deutlich benutzerfreundlicher ist als facebook. Allerdings macht es das Datenkraken-Image von google nicht leichter.
    Auch optisch finde ich google+ moderner und frischer als facebook. Da bin ich mal auf die Antwort von facebook gespannt. Ein optisches Upgrade scheint mir sinnvoll, Gerüchte darüber gibt es ja schon. Auch bei der Sache mit der Privatsphäre sollte sich was tun, einige “Facebook-Löscher“ konnte das zurückholen.

  9. Okay, jetzt verstehe ich es. Allerdings war die Loveparade in Duisburg, Bochum hat aus Sicherheitsgründen abgelehnt.

  10. @ruhrgebiet: Wie konnte mir das nur… danke dir für den Hinweis. Korrigiert. Ich komme übrigens selbst aus dem Ruhrgebiet! 😉

  11. Vielleicht weil die Parade durch verschiedene Städte getourt ist, erst Essen, dann Dortmund, Bochum hat abgesagt, Duisburg übernommen. Und als Bochumer – gebürtig übrigens aus Hamburg – konnte ich mir gar nicht erklären, warum man Bochum so schrecklich finden könnte. Es gibt sicherlich viele visuell schönere Städte, aber kaum eine so charmante. 🙂

  12. Ob Du Bochum oder Duisburg schreibst – eine Einleitung eines Artikels über den Andrang bei Google+, den Du mit den Geschehnissen, dem Andrang und so letztlich auch mit der Panik bei der letztjährigen Loveparade vergleichst, halte ich für mehr als unglücklich.

    In Duisburg sind 21 Menschen im Gedränge gestorben. Und Du schreibst: „Der Run auf Google+ förderte heute schlimmere Szenen zutage als Erinnerungen an Duisburg. Was für ein Rempeln, ein Drängen, ein Quetschen!“ Hallo?

  13. Toller Beitrag(:
    Aber es ist ja wirklich so…Man baut sich was auf und kaum kommt ein neuer Dienst, wird dieser von einer Person ausprobiert und weil andere den Kontakt zu der Person nicht verlieren möchten kommen sie auch zu dem Dienst. Und alles fängt von vorne an…ein Zwang auch dabei zu sein…

    Bis dann irgendwann der Begriff ,,Natur“ oder ,,Real Life“ die meistgesuchten Begriffe auf Google sind…

    Sehr, sehr toller Text von dir(:
    Hat mich zum nachdenken gebracht…(:

    Hättest du für mich auch noch ein Invite?
    Wenigstens ausprobieren muss man es ja(:

  14. Ich finde das eher andersherum ein Schuh daraus wird: Wer Donnerstag Abend noch keinen Google+ Account hatte ist einfach nicht mehr Hip in Kleinbloggersheim und kann seine Solzial-Mediale Kariere eigentlich auch gleich an den Nagel hängen.

  15. Es wird jedenfalls spannend zu sehen, wohin in einem Monat die meisten Links dieses hervorragenden Titels führen: Google+ / Facebook or else.
    Jedenfalls sind hier viele early adopters. Aktuell: 19:19 unentschieden.

  16. Und ich habe mich noch gewundert, dass Google Wave auf einmal so seltsam aussieht.

  17. An der These ist sicherlich was dran. Erklärt auch die süffisante Überheblichkeit der Twitterati gegenüber Facebook und dem Volk dort – schließlich sind die A-Twitterer und A-Blogger auf Facebook nicht so sehr die großen Influencer, weil es dort eben mehr nach echten Beziehungen geht.

    Unterm Strich sind wir Early Adopters aber gar nicht so wichtig für Google+. Die Frage ist eher, will die Breite Masse dahin. Der gewaltige Run, den wir gerade erleben, scheint mir dann doch der Run einer relativ kleinen Gruppe innerhalb unser Tech-Blase zu sein. Die breite Masse spielt Farmville und öffnet Glückskekse. Wenn die bei Google+ ankommt, reden wir nochmal drüber.

  18. Google+ gefällt mir von der Optik her gut. Aber was mir fehlt, ist der entscheidende Vorteil zu Facebook. Warum sollte die breite Masse dorthin wechseln?

    Deshalb kann ich unter Ennos Kommentar nur einen dicken Haken setzen.

  19. @Wolfgang: Ist raus. Allerdings blockt Google derzeit offenbar neue Invites – kann also sein, dass nichts angekommen ist.

  20. Danke André,

    stimmt. Nichts angekommen 🙁
    Ich muss mich wohl leider noch draußen anstellen. 🙂

  21. Pingback: + « unfassend

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