Der EHEC-Arschtritt – oder: „Die Sicherheit Deutschlands wird auch auf Facebook verteidigt!“

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Es ist der Offenbarungseid eines führenden Industriestaats. Einer Nation, die stolz auf die Entwicklungen im Land ist, Innovationen mit großem Pomp feiert, mit Megabudgets die eigene Fortschrittlichkeit in Wirtschaft und Politik vermarktet. Es ist sogar weit mehr als ein Offenbarungseid, es ist eine Schande, was Deutschland sich da leistet. Ich möchte die EHEC-Krise nur bedingt in den Mittelpunkt rücken, doch dieser Fall erweist sich immer mehr als ein so symptomatisches, so dramatisches Beispiel, dass man gar nicht umhin kann.

EHEC ist ein Synonym für das absolute Informationschaos geworden. Es gibt bis heute keine verlässlichen Details über die Herkunft und Ausbreitung der Seuche, es gibt nicht einmal Informationen über den aktuellen Stand der Ermittlungen. Dafür werden die Deutschen gerade Zeugen von Absatzeinbußen in Millionenhöhe, bilateraler Verbitterung und jeder Menge Paranoia – darüber liest man immerhin eine ganze Menge.

Im vorliegenden Fall ist es noch zu früh für Schuldzuweisungen, was den Urheber der Keimseuche angeht. Jedoch gibt es eine Partei (besser gesagt zwei!), die schon jetzt als straffällig zu bezeichnen ist: unsere Bundesregierung. Sie alleine hat den kollektiven Verfolgungswahn zu verantworten, das dezentrale Magaphongeschrei von Wissenschaftlern, Behörden, Bauern und Bürgern. Das ganze Durcheinander geht auf die Kappe von CDU und FDP, die entweder nicht verstehen – oder verstehen wollen – wie Krisenkommunikation heute auch nur in Ansätzen auszusehen hat.

Killer-Marzipan aus Lübeck

Wie ich bereits beschrieben habe, wird das Infomanagement komplett auf zwei Gruppen abgewälzt: Das Robert Koch Institut (RKI), das offenbar in diesem Jahr zum ersten Mal gelernt hat, seine Seite per Dreamweaver anzupassen, und die Medien, die sich angeführt von der dpa in klickanimierenden Headlines üben („Gurkentruppe“, „Die Spanier fühlen sich als Bauernopfer“, „Saure Gurkenzeit“, „Die Gurke der Schurke“). Die staatlichen Einrichtungen verweisen stets schulterzuckend an das RKI oder geben selbst den immergleichen Allround-Tipp: „Waschen Sie sich nach dem Toilettengang die Hände – aber das machen Sie ja sowieso.“

Sind es die Tomaten? Die Gurken? Der Feldsalat? Oder ist es doch eher das Rindfleisch, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) heute per Roulette ermittelt haben will. Man weiß es nicht. Im Spiel ist ja auch immer noch das Lübecker Marzipan dessen Rosenwasser ja vielleicht mit Kuhkot verdickt wurde – man weiß es nicht. Und zwischen dem öffentlich-rechtlichen Senioren-Gaudi und den privaten Schrott-Formaten kann man ja die eine oder andere Information schon mal verwechseln.

Man stelle sich folgendes Szenario vor: Terroristen greifen Deutschland mit Biowaffen an. Ein neuer Praktikant der Essener Stadtwerke hat Zugang zum Wasserreservoir und zudem einen Beutel mit gelber Flüssigkeit dabei, den er eines Nachts langsam in einer der Leitungen entleert. Am nächsten Tag gibt es die ersten Bauchkrämpfe in Essen-Karnap, eine ältere Dame kommt ins Krankenhaus, ringt ums Leben, weitere Fälle werden eingeliefert. In den Medien überschlägt man sich, allerorten fürchtet man das „flüssige Ruhrpott-Gift“. Hamsterkäufe beginnen, der Pro-Kopf-Konsum französischer Evian-Flaschen und MezzoMix-Dosen steigt rapide an. Wer macht denn dann das Krisenmanagement? Geht es nach der Bundesregierung, darf diese Aufgabe Herr Pomplun übernehmen. Er ist Abteilungsleiter der Unternehmenskommunikation (und nebenbei des Marketingservices!) der Essener Stadtwerke. „Der macht das schon“, hört man sich dann auf den Fluren des Berliner Gesundheitsministeriums sagen: „Vielleicht machen wir in einer Woche mal ne PK mit dem, dann können die ja berichten, wie weit sie sind. Oder noch besser: Die Aigner soll sich drum kümmern. Die kann so gut mit den Kameras.“

Willkommen im EHEC Kochstudio

Was unsere Bundesregierung nicht versteht, ist die Tatsache, dass ausbleibende Kommunikation nicht nur nonproduktiv, sondern schlichtweg schädlich ist. Im EHEC-Fall treibt das Informationsvakuum seit dem ersten Tag die wildesten Blüten: Willkommen auf der Facebook-Seite „EHEC Kochstudio“ – oder besuchen Sie doch lieber die „EHEC Lounge“. Wir haben aber auch schlichtweg Diffamierendes im Angebot, etwa die Page des „EHEC-Gymnasiums Othmarschen“, jener Schule, die kürzlich ein paar keimkranke Kinder nach Hause schicken und daher den Unterricht vorerst einstellen musste.

Ich würde gerne sagen, dass die Bundesregierung dem Ganzen seelenruhig zuschaut. Doch das kann ich nicht einmal. Jemand, der sich dem Internet in seinem Leben soweit genähert hat, dass er das komische Ding, das unten Knöpfe und oben Flackerbilder hat, als „neuartiges Rundfunkgerät“ bezeichnet, weiß nicht einmal von der Existenz solcher Dienste wie Facebook oder Twitter.

Wie wir kürzlich erfahren haben, sind jetzt 20 Millionen Deutsche auf Facebook aktiv. Das ist ein Viertel der Gesamtbevölkerung, das Tag für Tag auf blauen Seiten und Pinnwänden klickt. Zum Vergleich: Bislang hat es Deutschland in seiner Geschichte nur einmal geschafft, rund 30 Millionen Bürger zusammen zu bekommen: Und das war am 7. Juli 2010 zum WM-Halbfinale gegen die Spanier – und die Hälfte davon war zu diesem Zeitpunkt nachweislich besoffen.

Unsere Politiker sind Netznieten

Kurzum: Die gewählten Volksvertreter dieses Landes haben keine blasse Ahnung davon, was ein Viertel aller Bürger im Netz so treibt, wie sie ihre Informationen beschaffen, weiterverarbeiten und weitergeben. Wie Falschmeldungen entstehen und in welcher rasenden Geschwindigkeit sie sich verbreiten. Wie Hysterie schnell zum Antriebsmotor eines ganzen Schwarms werden kann, der dann mit ein paar Retweets weite Teile des Social Web infiziert. Wie Social Media Einfluss auf das reale Leben nimmt, auf Konsumverzicht (mit ziemlich realem wirtschaftlichen Schaden) und öffentliches Denunziantentum, auf Streit – und sich nichts davon mit einer einfachen Pressemitteilung wieder gerade biegen lässt.

Unsere Politiker sind Netznieten und – das alltägliche Politikgeschehen nun einmal außer Acht lassend – gefährden durch ihr konsequentes Schweigen und ihre Nichtteilnahme am Diskurs die Sicherheit Deutschlands. So einfach ist das. Die Krise spricht mit tausend Stimmen und das muss endlich ein Ende haben. Wenn schon nicht im EHEC-Fall, so dann doch bei der nächsten Krise, für die wir auf Ebene der Informationsdistribution weiterhin völlig unvorbereitet sind.

Wisst ihr, wir reden immer von den großen Dingen der Politik: Den AKW, Afghanistan, Benzinpreisen und den Fickificki-Affären eines Dominique Strauss-Kahns. Wir bezahlen die Leute in Berlin mit unseren Steuergeldern, damit sie uns organisieren, uns schützen und weiterbringen. Doch an Beispielen wie diesen sieht man, wie die Prioritäten liegen. Und mir geht es auf den Senkel. Ich weiß auch gar nicht, warum ich mich hier als Privatmann über so etwas aufregen muss, jetzt, da wir die tolle Lobbygemeinde „Digitale Gesellschaft“ haben, die offenbar noch nichts anderen zustande gebracht hat, als Leute zu nerven. Und auf die Vorschläge der Opposition („Offene Kommunikation ist in so einem Fall ein Muss!“ / „Die Hinweise für die Bevölkerung haben das Niveau des Einführungslehrgangs in der Hauswirtschaftsschule.“) oder die Einwände der Wissenschaftler („Wir brauchen eine bessere Informationspolitik für den Bürger!“) wird offenbar auch nicht gehört.

Um jedoch dem einen oder anderen Leser mit Einfluss und Verantwortung im Staatsdienst einen kleinen Leitfaden an die Hand zu geben, habe ich im Folgenden eine kleine Liste angefertigt, die Ihnen dabei helfen könnte, Ihre Aufgabe und Ihre Bürger endlich Ernst zu nehmen:

[list type=“numlist“]

  • Richten Sie umgehend einen Krisenstab ein, der alle Informationen bündelt und aufbereitet. Sie können ihn ja jederzeit auflösen, wenn alles nur heiße Luft war. Die Kosten? Peanuts. Zum Vergleich: Im Jahr 2006 sind Bundesbedienstete 132.000 Mal von Bonn nach Berlin und zurück geflogen. Also, bitte…
  • Etablieren Sie eine zentrale Anlaufstelle im Netz (wenn Sie noch eine freie Domain finden, die Domaingrabber haben sich am ersten Tag des Ausbruchs fast alles unter den Nagel gerissen – beim nächsten Mal wissen Sie, wie das läuft).
  • Veröffentlichen Sie hier alle autorisierten Meldungen in allgemeinverständlicher und unaufgeregter Art und Weise.
  • Gehen Sie in das Social Web und errichten Sie hier Zweigstellen für Ihr zentrales Info-Management. Gehen Sie auf Fragen ein, wenden Sie sich entschieden gegen Gerüchte.
  • Halten Sie einen engen Kontakt zu den Medien, die zur Zeit offenbar mehr Ahnung von den Vorgängen haben, als Sie selbst.
  • Besuchen Sie den Kurs „Ganz einfach Internet – für aktive Senioren„, angeboten von der Volkshochschule Berlin (jeweils mittwochs und freitags zwischen 14:00 und 17:15 Uhr).

[/list]

Update, 5. Juni, 00:03 Uhr

Ich lass das einfach jetzt hier so mal stehen:

Am Abend geht der Anruf einer verzweifelten Leserin in der Tagesspiegel-Redaktion ein: Eine Berlinerin möchte wissen, an wen sie sich wenden kann. Denn sie hat Angst. Ihre Freundin liegt mit einer Ehec-Infektion in der Charité. Mitte Mai sind sie und ihre Freundin in dem Restaurant in Lübeck eingekehrt, das die Ehec-Fahnder nun als mögliche Quelle des dramatischen Ausbruchs ins Visier genommen haben.

Diese Frau, ihr Name soll hier nicht genannt werden, würde sich gerne an die Behörden wenden. Sie möchte erzählen, was sie und ihre Freundin in dem Restaurant gegessen haben. Schließlich könnte das zur Aufklärung beitragen, wie es zu der Epidemie kommen konnte. Doch eine kurze Recherche des Tagesspiegel ergibt: Niemand ist zuständig – und an einem Samstagabend schon gar nicht erreichbar. Beim Robert-Koch-Insitut geht nur noch der Pförtner ans Telefon.

10 Kommentar

  1. Toller Beitrag André, Hut ab. Aber ob solch vielen Worte überhaupt noch was verändern könnten bei den ganzen Politiker-Nieten, wobei das Realität und Virtualität gleichermassen betrifft, das bezweifle ich sehr stark.

    EHEC ist nur ein weitere Beweise für die Unfähigkeit der Politik in puncto Kommunikation mit dem Bürger, der scheinbaren Mehrheit des Volke welche diese Nieten von Politiker immer wieder wählt.

    Werde deinen Beitrag mal verlinken, in der Hoffnung das es weitere Aufmerksame Leser gibt welche den Text dann vielleicht im eigenen Blog mittels ein paar eigenen Ansätzen dazu weiter verbreiten im Internet.

    @Robert Agthe: Wohl keinen „Gefällt mir“-Button gefunden und stattdessen einen klassischen und nichts sagenden Einzeiler produziert, welcher nur teilweise an „Erster Kommentar“ oder dergleichen erinnert. Und Alle so, JEAR!

  2. Und wer kein Internet (ältere Generation und so) oder facebook hat, kuckt in die Röhre?

  3. @Robert: Danke (?) 😉
    @Kranz: Danke für’s Mitmachen!
    @Andi: Jep, genauso, wie die anderen derzeit ja auch. Ich finde es jedoch eine Schande, dass nicht einmal der Versuch unternommen wird, die 20 Millionen zum Beispiel auf Facebook zu erreichen. Das würde schon für gehörig mehr Aufklärung innerhalb der Bevölkerung sorgen. Zumal sich ja auch die Medien immer öfters im Social Web an Infos bedienen – und die stimmen nunmal nicht immer alle. Oder: Dass in Lübeck der „Kartoffelkeller“ genannt wurde, haben wir Facebook zu verdanken. Ein Nutzer hat die Bilder des Restaurants erkannt und den Namen erwähnt. Dann sagten sich die Medien: „Joah, jetzt ist es eh raus, dann machen wir das auch.“ Der Gastronom ist jetzt erst einmal ruiniert -offenbar unschuldigerweise.

  4. Hey Andre! wer nur gewohnt ist zu senden und Dialog für eine lästige Wahlkampfpflicht hält, wenn keine Kameras am Start sind, der kann offensichtlich nicht #Umdenken. Es lebe die web1.0-Denke!

    Aber was kann man tun? Andere Politiker? Mehr Artikel? Mehr Demos? Ich fürchte, es bleibt wie so oft der mühsame Weg, Einzelne anhand genau solcher Beispiele und Artikeln wie deinem zu überzeugen. In diesem Sinne: it’s a looooong way, aber wie hören wir dieser Tage so oft – „alternativlos“…

  5. Pingback: Anonymous
  6. Ich finde es richtig und verständlich, dass das Krisenmanagement in diesem Fall kritisiert wird. Allerdings habe ich Zweifel daran, dass allein dadurch, dass man den Fokus der Kommunikation auf das Web setzt, so viel verbessern kann. Die sechs guten Vorschläge wären ein Anfang. Aber natürlich reicht das nicht! Nie und nimmer.

    Dass wir in unserem Land eine Vertrauenskrise erster Güte haben, lässt sich mit einer professionelleren Kommunikation allein nicht aus der Welt schaffen.

    Ein Beispiel: Junkert wurde anlässlich der letzten Diskussionen um die Griechenland-Hilfen mit den Worten zitiert: „Es ist klar, dass Griechenland nicht aus der Euro-Zone austritt. Es wird keinen Zahlungsausfall geben und das Land wird seinen Verpflichtungen komplett nachkommen können“. Der Mann ist sehr klug und besitzt vergleichsweise hohes Ansehen. Trotzdem: glaubt jemand, dass durch diese Äußerung irgendwer sein Misstrauen gegen die Politik im Allgemeinen verliert? Wir haben kein Vertrauen mehr.

    Und eines sollten wir nicht tun. Nämlich so, als hätten wir persönlich nicht unseren Anteil an dieser Entwicklung. Millionen plappern drauf los und dann wundern wir uns tatsächlich darüber, dass ein unscharfes Meinungsbild entsteht, das durchaus dazu in der Lage ist, die Realitäten zu verändern.

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