Chronologie einer Empörung: Twitter, der freiheitsraubende Zensurmeister (10 Phasen)

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Phase 1: Der Empörungsreflex
„FU, Twitter!“ – Die erste Reaktion auf die Ankündigung ist komplette Entrüstung, die eine Tweet- und Hashtag-Flut vor sich herschwemmt. Verlinkt wird immer wieder dieselbe Handvoll Artikel. Der Himmel verdüstert sich, am Horizont grollt der Shitstorm.

Phase 2: Der Grabreflex
Im Fahrwasser der blinden Wut finden sich immer einige kluge Köpfe, die der Sache auf den Grund gehen – allerdings mit vordefinierter These im Kopf: „Warum zensiert Twitter?“ wird dabei ersetzt durch „Deshalb ist Twitter böse!“ Antwort: Der Dienst buckelt vor den Saudis. Es geht um Kohle und Twitter kriegt den Hals nicht voll genug.

Phase 3: Der Medienreflex
Medien berichten über den Shitstorm. Zunächst geht es nur um möglichst blumige Deskriptoren der Fetzerei unter Nerds. Dann auch um die Sache an sich. Damit wird der Protest nobilitiert und erhält seine Legitimation. Diese Botschaft nehmen die Aufständischen mit.

Phase 4: Der Schweigwut-Reflex
Dass sich Twitter hinter dem Blogpost versteckt und maximal einen Sprecher zum Vorlesen des Textes herauslässt, stachelt Zorn und Misstrauen weiter an. Tonus: „Wenn sie schon so ein Ding abziehen, sollen sie auch die Eier haben, dazu öffentlich zu stehen!“

Phase 5: Der „Mir doch egal, die sind schuld!“-Reflex
Vergleiche sind ungültig und mildern das Urteil nicht ab. Dass Google hierzulande auf behördliche Anfragen hin Tausende Seiten filtert und Deutschland damit an die Spitze der internationalen Zensurstaaten befördert, ist nebensächlich.

Phase 6: Der Clever-Reflex
Blogger beginnen damit, Workarounds zu ermitteln und kräftig auf diese Alternativen hinzuweisen. Auf Nebenschauplätzen der Scharmützel werden diese und jene Einschränkungen abgewogen, schließlich schließt man sich wieder dem Feldzug an.

Phase 7: Der Nischenreflex
Damit auf den Titelseiten etablierter Medien nicht ständig dieselben Headlines auftauchen (dpa, AFP und AP feuern um sich), beginnen nun auch die Journalisten mit dem Graben. Man kommt zu dem offensichtlichen Ergebnis, dass tatsächlich Regierungen Zensuren vorschreiben – und Dienste dem Folge leisten müssen, um zu verhindern, dass der Stecker komplett gezogen wird.

Phase 8: Der Contra-Pro-Contra-Reflex
Die Verständnistöne gegenüber Twitters Einknicken machen die Runde. Aber nur zaghaft. Gegner der Gegner der Gegnerbewegung verstärken den Ruf nach Boykott. Wohlwollende Stimmen werden als Lobbyismushilfe der Gierigen interpretiert: Twitter erlaubt jetzt Zensurmaßnahmen, damit der chinesische Markt offensteht.

Phase 9: Der Rundumdebatten-Reflex
Wie frei ist das Internet? Wo gibt es Einschränkungen der Grundrechte, ohne, dass wir davon etwas mitbekommen? Experten werden befragt, Pressesprecher gelöchert, die Politik in die Pflicht genommen, Talkshows vorbereitet.

Phase 10: Der „Auf die nächste Sau warten“-Reflex
Nachdem SOPA, PIPA und ACTA, Wulff und die Linkenbespitzelung ja eigentlich schon völlig vergessen sind, gönnt man sich auch nach diesem Aufruhr ein Päuschen und wartet auf den nächsten Skandal im RSS-Reader.

2 Kommentar

  1. Die Mehrheit der Nutzer im Internet sind leider naiv und daran wird auch das Debakel um Twitter nichts ändern, weil wie schon erwähnt wird das auch wieder so schnell vergessen wie es aufgekommen ist.

  2. Tja, und da ich weiß, dass es so ungefähr ablaufen wird, spiel ich einfach nicht mehr mit. Und du? Warum ziehst du dir das noch rein?

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