Nutzer in Isolationshaft: Über die Silodenke von Medien und Unternehmen

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„Lasst, die ihr andere eintreten lasst, alle Hoffnung fahren!“
– frei nach Dante Alighieri


 

Breaking News: Ein Foto von Christian Wulff, Karl-Theodor zu Guttenberg und Ronald Schill beim Pokerspielen ist auf Facebook zu bestaunen!

Auch reingefallen? Deutsche Online-Medien sind Meister darin, die eigenen Leser an der Nase herumzuführen. Das Taggen der internen Rubriken stellt nach jahrelanger Verweigerung der Quellennennung (-und verlinkung) bereits eine Progression dar. Fast die Hälfte aller Zeitungen und Magazine im Netz steht heute auf dieser Stufe und schämt sich nicht. Es gibt drei Gründe für die Selbstreferenzialität:

1.) Simples Unwissen (wie ich leidvoll in Gesprächen erfuhr)
2.) Clevere SEO-Maßnahme (interne Verlinkungen sind immer gut)
3.) Panische Angst vor dem Trafficverlust („Meins, meins, alles meins!“)

Der dritte Punkt scheint mir derzeit am interessantesten – die Furcht, den Nutzer aus den eigenen Fängen zu verlieren. Gerade bei Textcontent mutet diese Einstellung ziemlich schwachsinnig an: Als Leser weiß ich es doch zu verstehen und schätzen, wenn ein Medium auf Quellen (extern) verlinkt, mich inmitten eines Berichts oder Analyse direkt zu den Orten des Geschehens verweist. Ich weiß, dass ich nicht bevormundet werde und genau das ist ein Grund für mich, um immer wieder zurückzukehren.

Doch das künstlich konstruierte Abhängigkeitsverhältnis zwischen Medium und Rezipient kennt noch andere Facetten. Kürzlich bekam ich die Broschüre eines Vertreters für einen privaten Videocloud-Dienst in die Finger: „Sie haben Ihr Video fest in Ihrer Hand! Weltweit!“, stand dort unter einer imposanten Liste von Großkunden. Man warnte eindringlich vor Plattformen wie YouTube oder Vimeo, die nur „verlorenen Traffic“ bedeuteten.

Der Bammel rührt daher, dass der Nutzer ja schnell die Quelle bei YouTube ausmachen kann und dann lediglich den Direktlink zum Clip verbreitet – die Seite des Urhebers würde dann gar nicht mehr beachtet werden. Auch, wenn ich ein gewisses Maß an Misstrauen teile, was YouTube als alleiniges Videoarchiv für Unternehmen angeht (bei den Google-Jungs weiß man nie, was morgen passiert), so ist jedoch gerade hier die Furcht vor Traffic-Verlust unbegründet. Schon im Jahr 2008 hat YouTube den traurigen Wettbewerber Yahoo! bei den Suchanfragen in die Tasche gesteckt, heute belegt Googles Clip-Plattform den unangefochtenen zweiten Platz unter allen Suchmaschinen, rund 800 Millionen Unique Visitors schauen pro Monat vorbei. Was viele Kontrollfreaks nicht verstehen, ist die Tatsache, dass man von diesem gigantischen Traffic immens profitieren kann – Sascha Pallenberg dürfte ihnen davon ein Lied singen können. Interessante Videos wecken hier das Interesse der Nutzer, die dann das erste Mal auf das Produkt oder die Dienstleistung aufmerksam werden und die Quelle aufsuchen.

An dieser Stelle möchte ich übrigens auch noch einmal ganz herzlich die Redaktion von Golem.de grüßen, die ein freches Mittelmaß gefunden hat: YouTube-Videos rippen und unter eigenem Namen vermarkten.

Und dann geht es weiter: Das Silo des Textcontents, das Silo des Videocontents, das Silo der Nutzergedanken. Denn ebenso wie manche Anbieter versuchen, einige Nutzer auf den eigenen Seiten zu halten, so gibt es andere, die versuchen, andere Nutzer so gut es geht fernzuhalten. Viele Unternehmen fürchten heute die Transparenz – vor allem diejenige, die zwischen Kunden herrschen kann. Der Grund, weshalb es heute so viele Bewertungsportale gibt (für Produkte, Locations usw.), besteht darin, dass die einzelnen Anbieter sich nicht trauen, Bewertungen auf ihren eigenen Seiten zuzulassen. User Reviews werden outgesourct – so weit weg vom Produkt, wie es nur geht! Um Gottes Willen, wir wollen nicht, dass direkt unter dem Preis die Meinung von Nutzern für alle lesbar prangt! Scott Galloway hat auf der SMICS (hier der Bericht) einiges dazu gesagt: Lediglich 17 Prozent aller US-Hotelketten bieten auf den eigenen Seiten Bewertungsfunktionen an. Mit der Folge, dass die meisten Kunden über Review-Portale buchen, was viele Hotels dank der Provisionen teuer zu stehen kommt. Ein Umdenken kommt nur langsam in die Gänge. Im Folgenden ein Auszug von Galloways Rede, ein Hoch auf die Freiheit des profitablen Nutzergedankens:

Wenn Sie hundert Nutzerbewertung haben und davon weniger als neunzig Prozent positiv sind, gehen die Käufe in den Keller. Doch das zeigt auch, dass Sie ein weitaus größeres Problem haben. Wenn Sie zu hundert Prozent positive Bewertungen haben, was Sie entweder durch Moderation oder Zensur erreichen, gibt es gar keine Käufe. Wenn Sie negative Reviews zwischen einem und fünfzehn Prozent haben, klappt es. Es sind die negativen Bewertungen, die den positiven erst ihre Glaubwürdigkeit verleihen.

So einfach könnte es sein.

Was das (nicht nur kommerzielle) Netz braucht, ist ein Verständnis für permeable Wände. Nutzer lassen sich schon lange nicht mehr bevormunden, der alleinige Besitzanspruch hat vor einem halben Jahrzehnt seine Gültigkeit verloren. Viele Anbieter verstehen aber bis heute nicht, wie sich das Userverhalten flexibilisiert hat: Wer Quellen nicht klar benennt und verlinkt, verliert Nutzer. Wer Videos hinter proprietären Playern versteckt, erfährt keine Verbreitung. Und wer User aussperrt, also für dumm hält (denn Bewertungen findet er so oder so), tut dies zum eigenen Nachteil.

Foto: Flickr – Fotograf: docsearls

2 Kommentar

  1. Schöner Text! Bei mir ist diese Unsitte vor allem bei den Seiten von BILD, Spiegel Online und Stern aufgefallen. Von YouTube rippen, in den eigenen Player einbinden, mit eigener Werbung versehen. Und UNS wollen die einen von Leistungsschutzrecht erzählen? Eine Frechheit ist sowas. Da hilft auch nicht das Feigenblatt an pseudoredaktionellem Kommentar, wo dann ein Sprecher erzählt, was in dem Video passiert.

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