Coronavirus in China:
Ein „Katalysator“ der Totalüberwachung Über Kontrollmaßnahmen, die bleiben werden

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Die jüngsten Corona-Zahlen aus China deuten auf eine langsame Entspannung bei den Neuinfektionen hin, lassen aber gleichzeitig wieder Zweifel an der Belastbarkeit der Informationen aufkommen. Weltweit wurden die rigorosen Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 gelobt, Kritik gab es aber stets an der Intransparenz der chinesischen Behörden – ein nachvollziehbarer Grund, wenn etwa mitten in der Epidemie die Definition und Zählweise für erkrankte Menschen ohne Erklärung „angepasst“ wird.

Zumindest in den Medien fährt China ein beeindruckendes Bündel von Maßnahmen gegen die Krankheit auf: Ganze Städte werden abgeriegelt, Krankenhäuser binnen weniger Tage aus dem Boden gestampft, Quarantänen werden verordnet. Einiges wirkt beinahe kurios, etwa, wenn fliegende Lautsprecher die Bürger zum Tragen von Masken aufrufen. Anderes wirkt wiederum beängstigend. Zum Beispiel, wenn Aufnahmen von Übungen auftauchen, bei denen Sicherheitsbehörden trainieren, renitente Überträger des Coronavirus’ zu isolieren.

1984 in 2020

Im Vergleich zu westlichen Staaten hat China als autoritäres Regime gewisse Möglichkeiten, Massen zu dirigieren, was im Kampf gegen das Virus ein Vorteil sein kann. Überwachen – das können sie, das wussten wir auch schon vor Ausbruch der Krankheit. Und so machte sich kurz Irritation breit, als die Regierung der eigenen Bevölkerung befahl, spätestens beim Verlassen der Häuser Atemmasken anzulegen. Man hätte vermuten können, dass mit dieser Order ein Schuss ins eigene Knie abgegeben wurde, immerhin verhindern Masken die Gesichtserkennung, die tagtäglich durch die Linsen der rund 200 Millionen Kameras im Land stattfindet. Doch es dauerte nur wenige Tage, bis Chinas KI-Schwergewicht SenseTime verkünden konnte, dass hier ein Durchbruch gelungen sei und die Gesichtserkennung nun auch funktioniere, wenn lediglich Augen- und Stirnpartie sichtbar seien. Der Kampf gegen die Anonymität, andere sagen auch „Freiheit“ dazu, kann also fortgesetzt werden.

China ist schon seit einiger Zeit dabei, landesweit das Social Scoring-System einzuführen, ein erzieherisches Big Data-Monster, das jegliche Bemühungen des Großen Bruders in den Schatten stellt: „1984“ bleibt ein Kindergeburtstag verglichen mit dem, was Beijing zur Disziplinierung der Bürger hier ins Feld führt. Doch ein paar Schritte fehlen noch zur totalen Kontrolle der eigenen Bevölkerung. Bleibt also die spannende Frage, welche Maßnahmen gerade jetzt gegen COVID-19 ergriffen werden. Und welche von diesen nach der Überwindung der Krise wohl bestehen bleiben. Spoiler: Es gibt ein paar Hinweise.

Die Quarantäne-Ampel

Am 10. Februar 2020 stellte die National Health Commission einen „Close Contact Detector“ vor, eine Rating-App, die sowohl vor der eigenen Ansteckung, wie der Ansteckung anderer schützen soll. Im Grunde handelt es sich dabei um einen digitalen Seuchenpass, der je nach jüngster Herkunft Zugang gewährt oder verwehrt. Dazu müssen Nutzer zunächst ihren vollständigen Namen sowie ihre ID- und Telefonnummer hinterlegen. In der Praxis werden dann an Zufahrten und anderen Kontrollpunkten QR-Codes gescannt. Alle Teilnehmer werden hier nach einem Ampelsystem bewertet: Nur wer über einen grünen Code verfügt, darf sich frei bewegen. Für Nutzer mit gelbem Code gibt es sieben Tage Quarantäne, für den roten Code werden 14 Tage fällig. Bewohner der Stadt Hangzhou berichten Reuters, dass mittlerweile vor Supermärkten und an Haustüren von Mietskasernen per QR-Code zur Identifizierung aufgerufen wird. In Shenzhen wurden zudem Drohnen beobachtet, die entsprechende Transparente mit Code über der Fahrbahn schweben lassen: Die Autorisierung wird vom System übernommen, der menschliche Faktor soweit es geht minimiert, um weitere Übertragungswege zu vermeiden.

Die App funktioniert wie Katwarn, das jedoch hyperlokalisiert wurde: Wer sich in die Nähe anderer Menschen begibt, bekommt Hinweise angezeigt, ob diese Person bereits zuvor als infiziert diagnostiziert wurde, sie aus einem Warngebiet stammt oder als unverdächtig gilt. Das System verlässt sich dabei nicht nur auf freiwillige Reiseangaben, sondern zieht sich darüber hinaus Daten anderer Regierungseinrichtungen. So sind etwa Chinas Verkehrsministerium, sowie die Behörden für Eisenbahn- und Luftfahrtverkehr mitbeteiligt. Das hat zur Folge, dass das Tracking hochgranular gestaltet werden kann. Beispiel Flugzeugreise: Ein „naher Personenkontakt“ besteht für alle Passagiere, die sich in derselben Reihe wie der infizierte Passagier befinden oder in einem Umkreis von drei Reihen um ihn herum sitzen. Für das Bordpersonal gilt in diesem Fall immer der Worst Case. In Zügen notiert die App für alle Personen, die im selben Abteil sitzen, einen „nahen Kontakt“.

Die Wirtschaft als Partner

Um für eine möglichst schnelle Verbreitung des Close Contact Detectors zu sorgen, kooperiert das Gesundheitsministerium zudem mit den Tech-Riesen des Landes. Zuvor hatten WeChat und Alibaba lediglich in Echtzeit über registrierte Fallzahlen und aktuelle Entwicklungen im Land berichtet. Nun wurde die Corona-Kontrollfunktion direkt in die Apps integriert. Tencents WeChat verfügt heute über 1,15 Milliarden Nutzer, Alibaba hat rund 711 Millionen angemeldete Kunden. Das ist in etwa so, als würden Facebook und Amazon der Bevölkerung Reisepässe ausstellen.

Und damit wirklich niemand dem System entkommt, wurden darüber hinaus China Unicom und China Telecom angewiesen, SIM-Tracking einzusetzen, um Bewegungsprofile von Bürgern zu erfassen, welche die Apps nicht nutzen. Auch hier werden Namen und ID-Nummern zuvor abgefragt.

Sinnvolle Aktion, aber… ähm…

Die Reaktionen der internationalen Medizin pendeln zwischen Begeisterung und Zweifel. Derlei Apps seien hilfreich, wenn es darum gehe, lückenlos Bewegungen nachzuvollziehen und damit die Epidemie einzudämmen. Gleichzeitig liege jedoch eine Gefahr in dem grotesken Ausmaß der Akkumulation von Daten: „Es gibt einen inhärenten Konflikt zwischen den absolut nötigen technischen Maßnahmen zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und dem persönlichen Datenschutz“, sagt Dr. Irwin Redlener, Direktor des National Center for Disaster Preparedness an der Columbia University. Menschenrechtsaktivisten sind hingegen entsetzt: „Die Partei erklärt in wachsendem Maße ‚stabilisierende Maßnahmen‘ – ein Euphemismus für soziale Kontrolle – zur höchsten Priorität. Und hat enorme Ressourcen an Sicherheitsbehörden weitergeleitet, um Dissidenten zu überwachen, Proteste zu beenden, das Internet zu zensieren und ein Massenüberwachungssystem zu entwickeln und zu implementieren“, sagt etwa Maya Wang von Human Rights Watch. „Ich denke, wir sehen hier Zeichen, dass der Ausbruch des Coronavirus’ als Katalysator und Boost für Chinas Massenüberwachungssysteme genutzt wird.“

Ja, da ist schon was dran. China wartet gerne auf Schlüsselmomente in der Geschichte, um die eigene Agenda voranzutreiben und dann Tatsachen zu schaffen, die auch bleiben. Und zwar in einem Stil, der niemals völlig uneingeschränkte Kritik zulässt. Als dominante Wirtschaftsmacht in der globalisierten Welt kann es sich das Land nicht über Gebühr leisten, den Eindruck zu erwecken, offenbar anlasslos Menschenrechte zu ignorieren, Volksgruppen zu diskriminieren oder gar Schlimmeres zu planen. Das war bereits zu den Olympischen Spielen 2008 so, als Beijing mit dem Argument, allen Beteiligten Sicherheit zu garantieren, sich daran machte, Städte in Hochsicherheitszonen zu verwandeln und die Jagd auf Tibeter und Uiguren eröffnete. Die seinerzeit geschaffene Infrastruktur der Überwachung ist bis heute im Betrieb. Und auch im Fall Corona wird es keinen deutlichen Tadel der Weltgemeinschaft geben: Denn niemand kann einer Regierung einen Vorwurf machen, wenn sie ihre eigene Bevölkerung schützt.