Premium-Accounts: Das künftige Zwei-Klassen-System der sozialen Netzwerke Implikationen eines Dammbruchs

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„It’s free and always will be!“ – seit Mitte der Nullerjahre hatte Facebook dieses Versprechen all seinen Nutzern auf seiner Startseite gegeben. Der Claim sollte Vertrauen schaffen und vor allem ein Kernelement der Marke unmissverständlich herausschälen: Facebook ist für alle Menschen da! Ob arm oder reich, für die Teilhabe am digitalen Sozialleben macht das keinen Unterschied. Wenige Monate vor Ausbruch der Pandemie verschwand dann der Spruch geräuschlos. Ein unverbindliches „Connect with friends and the world around you on Facebook.“ hat seitdem seinen Platz eingenommen.

2018 hatte es bereits erste Hinweise gegeben, dass Mark Zuckerberg an einem Premiumprodukt für Meta feilen könnte, letztlich brauchte es aber den grotesken Stunt eines exzentrischen Multimilliardärs, der die Waagschale zum Kippen brachte. Denn bereits wenige Stunden nach dem Kauf Twitters hatte Elon Musk gemerkt, dass das Betreiben eines sozialen Netzwerks mehr Energie, Zeit und vor allem Kapital bindet, als das Teilen eines Doge-Memes: Musk brauchte Geld und zwar schnell. Doch selbst nachdem er die halbe Belegschaft über Nacht rausgeschmissen, das Mobiliar und Inventar des Hauptquartiers in San Francisco verscherbelt und waghalsige Einsparungen an der Serverinfrastruktur vorgenommen hatte, reichte die Kohle vorne und hinten nicht. Alleine die Zinsen, die er pro Jahr an seine Gläubiger abdrücken muss, betragen 1,5 Milliarden US-Dollar.

Axtschlag in den Umsatzspalten

In der Geschichte der sozialen Netzwerke, die irgendwo Mitte der Neunziger mit Classmates.com und Sixdegrees begann, hat es bis heute (mit Ausnahmen im Business- und Dating-Bereich) keine Abomodelle gegeben. Das ganze Geschäft wurde bis heute von der Werbeindustrie angeschoben. Dazu werden Nutzerdaten gesammelt, getunt, kombiniert und justiert, um aus dem jeweiligen Account auch noch den letzten Conversion-Klick herauszupressen. Die Kennzahlen im Vordergrund werden vom ARPU angeführt, vom Average Revenue per User, der je nach geographischer Lage beachtlich schwanken kann.

Doch die vergangenen drei Jahren haben es in der globalen Werbekiste ordentlich rappeln lassen, die Unternehmen halten ihr Geld kollektiv zusammen. Selbst der gute Ratschlag, in unruhigen Zeiten antizyklisches Marketing nicht außer Acht zu lassen, verhallt ins Leere: Coronakrise, Lieferkettenkrise, Ukrainekrise, Inflationskrise, Energiekrise – keiner weiß, was morgen kommt. Oder besser: was nicht kommt. Gleichzeitig hat seit geraumer Zeit der Datenschutz das archaische, digitale Werbegeschäft erheblich erschwert, vorangetrieben durch die Politik, aber auch die Wirtschaft selbst. Apples historischer Move, die Entscheidung für oder gegen schnüffelnde Ad-Tracker auf dem Handy oder Rechner in die Hände des jeweiligen Nutzers zu legen, ist für viele Publisher und Plattformen kein bloßer Affront, sondern ein radikaler Axtschlag in den Umsatzspalten. Facebook, so wird vermutet, hat alleine im vergangenen Jahr zehn Milliarden Dollar einbüßen müssen, weil – Surprise! – die meisten seiner Nutzer sich gegen das Werbetracking entschieden haben.

Die Genese des Dekohäkchens

Nach Musks schlussfolgernder „Zwei dahin, drei im Sinn!“-Rechnung kam Twitter bei der Suche nach tragfähigen Monetarisierungsmodellen nicht länger an Bezahlkonten vorbei. Das neue Problem, das sich hier jedoch auftat, bestand im Formulieren des Verkaufsarguments – immerhin ging es darum, einen alten Unternehmergrundsatz über Bord zu werfen, der etwa so lautet: „Verlange niemals Geld für Produkte oder Dienstleistungen, die zuvor kostenlos waren.“

Musk suchte und fand Bauteile seiner Argumentationsmechanik bei den Sicherheitsaspekten. Analog zum Mailspam, der weltweit milliardenfach wachsend grassiert, weil der Versand einer Mail kostenlos ist, seien auch Spam-Account auf Twitter zu betrachten. Sobald diese Konten jedoch gebührenpflichtig werden, würden die Botfarmen schmelzen wie Butter in der Sonne. „Twitter Blue“ wurde geboren, ein Abomodell, das eher an die Eitelkeit der Nutzer appelliert und weniger deren Bedürfnis nach Komfort und Funktionen anspricht, denn in seiner bisherigen Form fügt es quasi nur ein blaues Dekohäkchen dem Usernamen hinzu. Die harten, bezifferbaren Vorteile für zahlende Kunden halten sich hingegen, zumindest derzeit noch, in Grenzen.

Seien wir ehrlich: Wir hatten alle angesichts von „Twitter Blue“ entweder mit einem globalen Aufschrei oder hysterischen Lachkrampf gerechnet, doch zur Überraschung wirklich aller Beobachter blieb der große FUBAR (Fucked Up Beyond All Repair) aus. Die Leute schluckten es tatsächlich! Vielleicht noch nicht in dem Umfang, dass Premiumkonten künftig maßgeblich zur Finanzierung der Plattform beitragen, doch es hatte erfolgreich ein krasser Paradigmenwechsel stattgefunden. Eine Revolution.

Der Dammbruch

Sektkorken knallten im Twitter-HQ, doch ganz sicher auch in Menlo Park, wo Zuckerberg ununterbrochen die F5-Taste bei den News-Seiten drückte, um wieder und wieder bestätigt zu sehen, dass Nutzer tatsächlich Geld für Konten in generischen sozialen Netzwerken ausgeben. Er selbst steckt seit Monaten hart in der Bredouille, seitdem er nicht nur jeden Tag Millionen von Dollars, sondern vor allem auch seine persönliche Glaubwürdigkeit als CEO und Digitalvisionär im Metaverse versenkt.

Er erlaubte sich wenige Tage Bedenkzeit, ehe er verkündete: Auch Facebook und Instagram werden ab sofort Premiumkonten einführen: zwölf Dollar im Monat soll der Spaß kosten – vier Dollar mehr als Twitter. Sein Verkaufsargument? Mehr „Authenticity“, womit er wohl in eine gleichwertige Kerbe wie Musk schlägt. Damit ist ein Damm gebrochen.

Vollkommen neue Relevanzmarker

Die größten sozialen Netzwerke der Erde schwenken langsam auf Bezahlabos um – übrigens völlig unbeeindruckt von den lokalen Gegebenheiten. Facebook Premium kostet in jedem Land der Erde zwölf Dollar, sei es in den USA (monatliches Durchschnittseinkommen rund 5.000 Dollar) oder auf den Philippinen (Durchschnittseinkommen 250 Dollar). Da werden einige das Nachsehen haben. Doch beschränkte Teilhabe ist nur eine der vielen Implikationen, die das Premiummodell mit sich bringt.

Interaktion am Content wurde bislang belohnt, da diese die Aufmerksamkeit der Nutzer bindet, zum Reagieren animiert, zum Verweilen einlädt und letztlich zum Klicken auf Anzeigen. Doch wenn Engagement künftig nicht mehr der beherrschende Indikator für Relevanz ist, wie wird dann in den Timelines gerankt? Wird der Hass dann wirklich weniger? Werden wir verstärkt die Posts solventer Premiumnutzer zu sehen bekommen, deren Inhalte höher gewichtet werden? Musk hat diesbezügliche Pläne für Twitter bereits geäußert. Was definiert künftig sehenswerten Content in einer Welt, die vor Erlebnisposts, News, Fotos, Memes, Audiomitschnitten und Videoclips aus allen Nähten platzt?

Kommt das Metanetzwerk?

Nächste Frage: Was passiert mit unseren Filterblasen, wenn sich Netzwerke künftig äußerlich durch Bezahlschranken und innerlich durch Zwei-Klassen-Communitys abgrenzen? Wird das Rauschen lauter oder leiser? Eines sich klar, die Nutzer werden selektieren müssen. Die Situation, die auf uns zukommt, ist vergleichbar mit den Streaming Wars, die uns bereits früh dazu zwangen, kniffelige Entscheidungen zu treffen: Buchen wir das Abo bei Netflix oder Amazon Prime? Bei WOW kommt the „The Last of Us“, bei Disney+ aber „The White Lotus“! So wie die Menschen heute ihren Entertainment-Konsum konsolidieren müssen, könnten sie bald auch zu ähnlichen Entscheidungen bei den sozialen Netzwerken gezwungen sein: Twitter Blue + Facebook Verified + LinkedIn Career = 50 Euro. Das ist schon eine Menge Holz.

Die großen Verlage haben sich in 25 Jahren nicht auf eine Kulturflatrate im Netz einigen können, bei der Nutzer einen Pauschalbetrag zahlen und im Gegenzug Zugriff auf alle Angebote bekommen. Damit haben sie willentlich eine vollkommen zersplitterte Landschaft des Journalismus‘ geschaffen, die von Gräben aus Bezahlschranken (Metapherinflation!) zerfurcht ist. Werden sich die sozialen Plattformen anders anstellen können und sich zusammenraffen? Oder wird es einen ganz neuen Player geben, den Erschaffer eines Metanetzwerks, der gegen Gebühr eine gleichzeitige, breite Teilhabe in mehreren Foren gestattet?

Das Verschwinden der Anonymität

Und letztlich: Sowohl Twitter als auch Facebook bestehen auf Identitätsnachweise ihrer zahlenden Kundschaft. Wer also künftig eine hörbare Stimme im jeweiligen Netzwerk haben möchte, muss sich mit Namen, Geburtsdatum und Kreditkartenummer explizit akkreditieren. Damit schaffen die Plattformen einen großen Datenschatz über den ein grausiger Schatten liegt, wenn man an behördliche Anfragen aus autokratischen Regimes denkt. Dissidenten, Oppositionelle, Aktivisten – werden sie noch uneingeschränkten und vor allem sicheren Zugang zur Öffentlichkeit haben? Ich bezweifle das.

Man sieht: Es gibt eine Menge Fragen, die derzeit unbeantwortet im Raum stehen. Die Zeit wird Antworten liefern. Und die Wirtschaft. Politik und Regulierung werden hingegen wie immer erst den Scherbenhaufen betrachten. Wer jedenfalls bislang über die dunkle Seite der Online-Werbung schimpfte wird schnell feststellen, dass auch andere Modelle durchaus einen gewaltsamen Einfluss auf Fairness, Ordnung und Berechenbarkeit haben können. Welche Lösung besser war, werden wir erst ganz am Ende sehen.