Fräulein Hegemanns Gespür für den Content-Raub

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Ich habe die Existenz sogenannter Coming of Age-Geschichten noch nie verstanden. Die Kaufmotivation der Leser speist sich bei Erwachsenen wohl daraus, dass sie sich nicht trauen, die Kinderzimmertür von außen zu öffnen, aus Angst jemanden zu begegnen, den sie nicht kennen. Jugendliche greifen zum Skandal-Buch, weil sie Angst davor haben, die Tür von innen zu öffnen und sich lieber Geschichten ausmalen, wie die Welt da draußen, die sie vom Fernseher und den Magazinen her kennen, wohl aussieht. Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen. Benjamin Lebert zeigte Ende der Neunziger, dass sich derlei Lektüre hervorragend verkaufen lässt. Und als nun Frau Roche ihre smegmatriefende Nonsense-Story „Feuchtgebiete“ veröffentlichte und von der anderen Seite Heinz Strunk mit seinem „Fleckenteufel“ auf den Zug aufsprang, war schnell klar, dass die Marschrichtung für die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts fest stand.

Höchste Zeit also, um die nächste Stufe zu zünden, muss sich da der Ullstein Verlag gedacht haben. Toppen wir den Skandal, indem nun auch eine Minderjährige hin und wieder das Wort „Ficken“ in den Mund nehmen darf: und Helene Hegemann war geboren.

Die junge Bochumerin avancierte mit ihrem Debut-Roman „Axolotl Roadkill“ schon vor Marktbeginn zum Shooting-Star der deutschen Literaturszene (was kein Problem ist, da diese unter erprobten US-Importen und der Mutlosigkeit hiesiger Verlage erstickt). Kritiker verglichen sie mit eben jener Charlotte Roche, die „Zeit“ kramte Lautréamonts „Gesänge des Maldoror“ als Maßstab hevor oder Feridun Zaimoglus „German Amok“. Es sei „etwas nervtötend“, was den „Fickundkotz-Jargon“ und das Gelaber der „heterosexuellen Matrix“ angehe, wurde eingeworfen, doch letztendlich gefielen sich die Kritiker darin, mit roten Ohren hinter den Buchseiten zu kichern, auf der von offenbar entfesselter Lust von Mädchen zu lesen war, die gut ihre Töchter hätten sein können.

Doch nun wurde das Wunderkind entzaubert. Deef Pirmasens, einem Blogger und Lesungsorganisator, waren einige Passagen aufgefallen, von denen er meinte, sie schon einmal in einem anderen Zusammenhang gelesen zu haben:

Dann ist mir aufgefallen, dass sie sehr herausstechende Wörter wie „Vaselintitten“ oder „Technoplastizität“ verwendet und diese kamen mir bekannt vor. Plötzlich ist mir dann auch eingefallen, woher ich die Wörter kenne: aus dem Buch „Strobo“ des Berliner Bloggers Airen. Aber es sind nicht nur Wörter, sondern auch leicht verfremdete Sätze oder Szenen, wie ich bemerkt habe, als ich dann verglichen habe.

Whoopsie. Fräulein Hegemann soll bei einem Blogger seitenweise abgeschrieben haben, so der aktuelle Vorwurf. Die Beschuldigte brauchte 48 Stunden, um dieser Anklage zu begegnen – natürlich in Absprache mit dem Verlag. In der ebenso unbeholfenen wie dummdreisten Replik räumt Hegemann ein, dass sie ihr Verhalten und ihre Arbeitsweise als „total legitim“ einschätzt. So etwas passiere einfach, wenn man an einen Roman „eher regiemäßig“ rangehe: „Originalität gibt’s sowieso nicht, nur Echtheit“, so ihr klasse Fazit. Sie sieht sich als Kind der „Nullerjahre“ und da sei nun einmal die „Ablösung von diesem ganzen Urheberrechtsexzess durch das Recht zum Kopieren und zur Transformation“ angesagt. Naja, jedenfalls entschuldige sie sich dafür, „nicht von vornherein alle Menschen entsprechend erwähnt zu haben, deren Gedanken und Texte mir geholfen haben.“ Fertig. Ihre Ullstein-Verlegerin Dr. Siv Bublitz tätschelte der Kleinen verlegen den Kopf, trippelte von einem Fuß auf den anderen und verwies diffus stammelnd auf die „Sharing-Kultur des Internets“ und dass es ja überhaupt eigentlich alles Hegemanns Schuld sei, immerhin habe man vor dem Druck gefragt, ob irgendwelche Quellen oder Zitate verwendet wurden.

Als ich heute von der Sache hörte, rannte ich erst einmal auf die Toilette, sperrte mich ein und dann war erst einmal eine Runde gepflegtes Fremdschämen dran. Wie weit sind wir heute in der Literatur gekommen, dass frecher Diebstahl als vollkommen „legitim“ deklariert wird und die Räuber auch noch grinsend davonkommen? Ich meine, wenn man schon billigen Voyerismus als Literatur verkauft, dann bitte richtig.

In einem ersten Reflex polterten die Medien: „17-jähriger Literaturstar klaute Roman aus Netz“ („Welt“), „Helene Hegemann hat abgeschrieben“ („BZ“), “ Untermieter im eigenen Kopf“ (jetzt.de), doch schon nach kurzer Zeit merkten die News-Anbieter, dass sie wiederum die Meldungen als duplicate content auf ihren eigenen Seiten häuften. Buzz-Gewinner ist derjenige, der im Strom mit den Konventionen bricht und so riss Spiegel Online als erstes das Segel herum, um Herrn Haas eine ritterliche Apologie für das arme Mädchen halten zu lassen: „Wo kommen wir eigentlich hin, wenn die Literatur auf einmal wieder einem Autorenbegriff unterworfen wird, der aus dem 18. Jahrhundert stammt?“, feixt er dem Leser entgegen und findet das Vorgehen Hegemanns vollends zeitgemäß. Um diese These zu untermauern, bemüht er Burroughs Cutup-Verfahren und schließlich sogar Foucault höchstpersönlich, was letztendlich in einem Konglomerat pseudoakademischer Ausmaße gipfelt. Die „Zeit“ leckte angesichts des Skandal-Skandals ebenfalls Blut und sprang als akkreditierter Kulturadvokat an die Seite der Autorin: „Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen“, wird dort Lessing zitiert, um nach einer dramatischen Kunstpause „Das war 1768!“ hinzuzufügen. Beide Redakteure würde ich gerne fragen, ob ich ihre intelligenten Einwürfe kopieren und in Buchform unter meinem Namen veröffentlichen dürfte, sehe aber davon ab, weil ich keine Lust auf langwierige Konfrontationen mit den Rechtsabteilungen habe. „Wenn dann aber die Risiken eines solchen, nicht mehr selbstherrlich auf Individualität und Originalität pochenden Schreibens deutlich werden, dann fängt das Gezeter an“, schreibt Hass und ich rufe hiermit alle Blogger auf, das „© SPIEGEL ONLINE 2010“ am Fuße der Seite zu ignorieren und SpOn-Artikel seitenweise per RSS auf ihr WordPress zu ziehen.

Diese groteske Scharade wird sich die kommenden Tage fortsetzen. Doch eines ist sicher: Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Intertextualität und Kopie, eine große Kluft zwischen Assoziationen und Diebstahl. Burroughs Cutups waren Mashups – Experimente, die er nicht als originäre Eigenmarke mit großem Werbe-Tamtam unter die Leute brachte. Er war kein „kongenialer Superstar“, Burroughs starb 1997 einsam in einem Haus voller Katzen. „Ein Buch von einem 28-jährigen Blogger aus einem Untergrundverlag ist offensichtlich nicht so interessant wie eine Veröffentlichung in einem Großverlag von einer Jugendlichen, deren Vater in der Kulturszene bekannt ist“, so Pirmasens. Wie weit die Rebellion gegen „die da oben“ bei Hegemann geht, merkt man, wenn man sich vor Augen führt, dass ihr Übervater den Roman „Strobo“ fürsorglich bei Amazon für seine Tochter bestellte.