Loveparade & naive Twitter-Nutzer: Wirrer Prügelkommentar zeigt Machtlosigkeit der etablierten Medien

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Am Montagmorgen hat Lovapent-Chef Rainer Schaller eine neue Seite ins Netz gestellt, die in Originalbildern und -mitschnitten zeigen soll, was am 24. Juli bei der Loveparade tatsächlich passiert ist. Zweifelsohne ist der dort zu sehende „Dokumentarfilm“ politisch gefärbt: Wie zu vermuten war, ist auch dieses angeblich objektive Zeugnis ein neuer Delinquenzantrag für die Polizei, die nach Meinung des Veranstalters auf allen Gebieten versagt hat. So leiht sich der Film unter anderem Autoritätsargumente bei der Feuerwehr, die an jenem Tage einige Maßnahmen aus „einsatztaktischer Sicht“ als „sehr problematisch“ bezeichnete und daher „dagegen“ gewesen sei (PDF). Am 2. September wird Schaller bei Senioren-Talker Kerner im Privatfernsehen auftreten und vehement diese These bekräftigen.

Der Zeitpunkt der Veröffentlichung ist zweifelsohne klug gewählt, da am kommenden Donnerstag das Verteidigungsbollwerk von Innenministerium und Polizei im NRW-Landtag aufgefahren wird. Bereits jetzt hat – ebenfalls wenig überraschend – NRWs Wachtmeister Nummer eins, Dieter Wehe, aufs Heftigste protestiert: „Seine (Schallers) Aussagen werden nicht besser, nur weil er sie wiederholt. Der Veranstalter hat die Polizei um Hilfe gebeten, weil sein Sicherheitskonzept zusammen gebrochen war. Er hatte zugesagt, die Eingangsschleusen zu schließen. Das ist nicht geschehen.“

Bei all dem Hin und Her fehlt allerdings noch eine Streitpartei, die bislang eher verdeckt den Mund aufgemacht hat: die Medien. Ausgerechnet das Bielefelder „Westfalen-Blatt“ (Slogan: „Kompetent im Netz“) spielt sich in der Nacht zum Dienstag zum Speaker der schreibenden Zunft auf und poltert, was das Zeug hält. Dazu lancierte Nachrichtenleiter Andreas Kolesch eine diffuse Pressemitteilung, bei der nicht klar zu erkennen ist, ob sie Meldung oder Kommentar sein soll. Darin wirft Kolesch dem Fitness-König Schaller in schärfsten Worten Parteilichkeit vor: „Damit erreicht der Streit über die Verantwortung für eine Katastrophe, bei der 21 junge Menschen ihr Leben verloren, eine neue Qualität, die weit über den Fall hinausweist“, so der Journalist. Das seiner Meinung nach Pikante an all dem – und insbesondere der neuen Website:

Während bislang über die Medien kommuniziert, gestritten und eine Öffentlichkeit hergestellt wurde, gewährt jetzt ein Medium Einblicke sozusagen bis in die Ermittlungsakte: das Internet. Seht her, so war es, dies ist die Wahrheit!, will uns Schaller mit der kaum zu bewältigenden Flut von Videos, Grafiken und Dokumenten sagen.

Oh, mein Gott! Wir Medien wurden heute Zeugen unserer eigenen Entmachtung. Die Zeitung, das ehemalige Sprachrohr der absoluten Wahrheit, wurde an diesem Montag ins wirkungslose Abseits gestellt. Koleschs Fazit: „Unglaublich: Schaller spricht sich im Internet selbst frei!“

Als ob nie zuvor Beschuldigte versucht hätten, sich in vielerlei Hinsicht manipulativ von öffentlichen Vorwürfen freizusprechen – seien diese gerechtfertigt oder nicht; quilibet praesumitur bonus, donec probatur contrarium. Die Aufgabe der Wahrheitsfindung liegt nicht bei den Medien, sondern beim Gericht. Wie ein angeschossener Hund wütet Kolesch dennoch weiter: „Eine sechseinhalbminütige Kurzdokumentation über die angeblichen Unglücksursachen hätte keine Fernsehredaktion handwerklich besser machen können“, wird sich da empört. Schaller beanspruche – so wörtlich – die „Deutungshoheit“, die seiner Meinung nach klar bei den Zeitungen liegen würde.

Interessant ist Koleschs Entschlüsselung der perfiden Schaller-Methode: „Wir erleben den erstmaligen Versuch, in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mit den geballten Möglichkeiten des Internet die öffentliche Meinung zu steuern.“ Da haben wir es! Das Internet vergiftet Wirklichkeit! Doch schuld ist nicht nur Schaller und sein teuflisches Internet. Schuld sind in erster Linie die leichtgläubigen Nutzer: „Eine objektive Abwägung gibt es bei aller Ausführlichkeit der Darstellung nicht. Die Generation Twitter verlangt danach vielleicht auch nicht. Vielen werden die zugegeben so noch nicht gezeigten Bilder reichen“, so Kolesch und schiebt warnend hinterher: „Ein fatales Signal, wenn diese Art der Aufarbeitung Schule macht!“

Wer hier naiv ist? Das ist derjenige, der echte Aufklärung in einem schwebenden Verfahren von den Beteiligten fordert. Die Aufgabe der Medien ist es, auf die Gegenseite hinzuweisen, Transparenz in dem Wirrwarr gefärbter Informationen zu schaffen und dem Leser als Kompass zur Seite zu stehen – mehr nicht. Das „Westfalen-Blatt“ gibt sich mit dieser Rolle aber nicht zufrieden und kämpft gleichermaßen um plumpe Beachtung und Existenzberechtigung:

Dies ist ein Beleg, wie wichtig jetzt die Rolle der seriösen Medien ist, wie unverzichtbar aber auch eine gesunde Skepsis bei Lesern und Zuschauern. Denn Schuldsprüche sollten der Justiz vorbehalten bleiben, nicht dem Internet.

Und auch nicht den Medien.

3 Kommentar

  1. Nicht nur Twitter alleine ist das Problem der Naivität, sondern eher die mehrheitlich jungen Nutzer des Internet welche alle samt so etwas wie Medienkompetenz nur als Wort, aber ohne Bedeutung kennen.

    Twitter,FaceBook und Co., sind nur die sprichwörtliche Spitze eines Eisberg der Jahr für Jahr beträchtlich wächst und damit die wachsende Naivität stetig weiter befördert.

  2. @LexX Noel: Ist die Aussage nicht etwas allumfasssend formuliert? Ich denke man sollte dabei vorsichtig sein und eher einen differenzierten Blick auf den Umgang der jungen Nutzer mit dem Internet werfen, indem man evtl milieuspezifisch Schlüsse zieht. Denn die Verallgemeinerung sehe ich als genauso naiv an ihre Aussage- auch wenn die *mehrheitlich* benutzt haben…

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