Brian Solis im Interview: „Marken sind die neuen Medienunternehmen“

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Die Entwicklungen im Social Web überschlagen sich: Fan-Pages auf Facebook nehmen gigantische Ausmaße an, Twitter wird für Kunden zur wichtigsten Echtzeitnachrichtenquelle und Google bläst mit dem neuen Netzwerk Google Plus zum Angriff.

Brian Solis ist die Stimme Amerikas, wenn es um das Thema Social Media geht. Der 41-Jährige arbeitet heute als Principal bei der Altimeter Group, sein im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Engage“ avancierte binnen kürzester Zeit zur Bibel der Marketing-2.0-Szene. Auf dem Social Media Marketing & I-Commerce Summit 2011 in Monte Carlo hatte ich kürzlich Gelegenheit, mit Solis ein Interview zu führen.

Mr. Solis, was ist Ihrer Meinung nach der größte Fehler, den ein Unternehmen in Social Media machen kann?

Den größten Fehler, den Unternehmen heute machen, ist der, dass sie sich nicht die Frage stellen: Warum machen wir überhaupt Social Media? Welchen Wert können wir beitragen, was wollen die Kunden? Fehler Nummer zwei besteht darin, dass sie ihre Aktivitäten auf das Marketing beschränken – und dieses Marketing ist oft von der bisherigen Unternehmenskultur geprägt. Viele Firmen, die ich kenne, haben eine Broadcasting-Mentalität: Das sind wir, das machen wir, das verkaufen wir – ihr werdet das schon mögen. Doch in der Welt von Social Media begegnen wir einer neuen Klasse von Konsumenten: Es gibt die klassischen Online-Kunden, die ihre Suche bei Google beginnen. Dann gibt es den traditionellen Konsumenten, jemand, der den Medien, dem Fernsehen und dem Radio, den Zeitungen und Magazinen vertraut. Und dann gibt es die sozialen oder vernetzten Konsumenten, die Social Media leben – und zwar auch unterwegs per Smartphone oder Tablet. Sie sind wesentlich anspruchsvoller, ihre Bedürfnisse sind wesentlich größer, sie erwarten Personalisierung und Aufmerksamkeit. Diese Gruppe wird aber ignoriert und genauso wie alle anderen behandelt: „Hey, klick auf ‚Gefällt mir!‘ und du kannst vielleicht ein iPad gewinnen!“ – Unternehmen konfigurieren ihre redaktionellen Inhalte, ihre Facebook-Seiten oder YouTube-Kanäle so, dass sie praktisch zur reinen Werbung verkommen. Es sind keine Unterhaltungen, die irgendeine Form von Wert besitzen. Genau diesen Wert nicht in den sozialen Stream zu integrieren: das ist der größte Fehler, den heute viele Unternehmen machen.

Deshalb ist Monitoring und die Analyse so wichtig. Wenn man die Kunden fragen würde, was sie vom Social-Media-Auftritt des Unternehmens eigentlich erwarten, würden die Antworten viele überraschen. Es gibt heute eine Menge interessanter Studien, die aufzeigen, dass die Selbstwahrnehmung von Unternehmen und ihr tatsächliches Image bei der Zielgruppe diametral auseinanderklaffen.

Wie können Medienunternehmen sich in Zeiten von Social Media behaupten?

Es beginnt mit der Einsicht, dass sie auf der falschen Spur sind; was wiederum viel mit den Unternehmenskulturen zu tun hat. Es war keine Überraschung, dass sich die Landschaft verändern würde, das begann bereits im Web 1.0. Schon damals gruppierten sich die Nutzer in Foren, trafen sich in Kommentarboxen und bei Abstimmungen – es formten sich Communitys, was wirklich sehr früh abzusehen war.

Also, wie können Medienunternehmen davon profitieren? Man müsste zum Beispiel damit anfangen, neue Firmenzweige einzurichten, um völlig neue Echtzeitstrategien zu erproben und erste Monetarisierungsmodelle dafür zu entwickeln. Ich habe mit vielen Medienunternehmen zusammengearbeitet und dabei gemerkt, dass für die meisten von ihnen die größte Bedrohung in der Vorstellung besteht, dass Marken selbst zu Medienunternehmen werden können. Schauen Sie sich Starbucks an: Starbucks hat rund 23 Millionen Fans auf Facebook, ein riesiges Publikum. Eine Zeitung, ein Magazin oder ein Fernsehsender sagt also: „Hey, Starbucks: Wollt ihr nicht unser Hauptsponsor werden, um uns dabei zu helfen, Umsätze zu generieren?“ Starbucks sagt: „Warum denn? Wir haben eine viel größere Reichweite als ihr. Zudem ist unsere Community 1:1 mit unserer Zielgruppe identisch. Gebt uns einen Grund, weshalb wir Werbung bei euch schalten sollen!“

Medienunternehmen haben das noch nicht verstanden. Sie fühlen sich von denen bedroht, die sie eigentlich unterstützen sollten. Deshalb glaube ich, dass für sie die einzige Alternative darin besteht, eine Strategie zu entwickeln, wie die Reichweite und die Dominanz der Werbekunden wieder übertroffen werden kann. Dass Marken zu Medienunternehmen werden, lässt sich nicht verhindern. Die Medienkonzerne müssen sich die Frage stellen: Welchen Wert kann ich beitragen? Und diese neuen Modelle können völlig von dem abweichen, was heute als selbstverständlich gilt. Sie müssen erforscht werden, Medien sollten eigene Experimentierlabore einrichten – unabhängig vom Alltagsgeschäft. Das Erproben neuer Modelle verlangt nach einer neuen Unternehmenskultur, nach neuen Infrastrukturen und einem völlig neuen Führungsstil. Vielleicht bleibt die Einheit unabhängig, vielleicht wird sie eines Tages wieder eingegliedert.

Von heute auf morgen wird das nicht funktionieren. Redaktionelle Inhalte sind heute Massenware – wie kann man sie wieder speziell machen? Warum soll ich als Leser oder als Werbekunde dieses Medium unterstützen? Bis die Antwort auf diese Frage gefunden ist, wird es noch lange dauern: vielleicht ein Jahr, vielleicht zehn Jahre.

Bislang haben wir viel über Social-Media-Lösungen zwischen Unternehmen und Konsumenten gesprochen. Gibt es auch eine Kommunikation zwischen Unternehmen und wie funktioniert sie?

Tatsächlich wird diese Frage immer wieder gestellt – und es ist eine wichtige Frage. Letzten Endes geht es immer um Menschen, egal ob es um B2C, B2B oder B2G geht. Menschen finden Informationen auf ihre eigene Art und Weise: Denken Sie an die Einteilung von Online-Kunden, traditionellen Kunden und vernetzten Kunden. Es hängt von den einzelnen Unternehmen und ihren Strukturen ab, wie hier die Relationen stehen. Deshalb halte ich die Analyse für so wichtig. Bei einigen Unternehmen spielt Twitter keine Rolle, dafür ist es YouTube. Vielleicht ist es nicht Facebook, sondern LinkedIn. Vielleicht ist es nicht Google Plus, dafür sind in der Kommunikation aber bestimmte Blogs ausschlaggebend. Die Balance ist immer anders.

Worauf man sich konzentrieren sollte? Wo man seine Energie und Zeit investiert? Das lässt sich leicht herausfinden, denn diese Informationen sind öffentlich, man muss sie aber durch Analyse sichtbar machen. Dennoch sagen viele Unternehmen einfach – glauben Sie es oder nicht: „Macht uns einen Account bei Facebook und Twitter, lasst uns ein paar YouTube-Videos schießen und wir sind startklar.“ Und dann fragen sie sich nachher: „Warum klappt das alles nicht?“ Weil sie nicht wissen, wen sie eigentlich wo erreichen wollen.

Die zweite Sache bei B2B-Kommunikation ist diese: Viele Entscheidungsträger in Unternehmen sind noch sehr traditionell eingestellt. Sie verlassen sich auf Beziehungen, auf Branchennachrichten, auf Newsletter oder Whitepaper. Leute, die diesen Chefs unterstehen und diesen berichten, sind heute oft bereits vernetzte Nutzer. Wie sie Informationen finden und verwerten, unterscheidet sich davon also sehr. Dennoch geben sie diese wichtigen Informationen nach oben weiter. Daher ist es umso wichtiger, dass – unabhängig von der Branche – Strategien entwickelt werden, wie diese Informationen in der Chefetage auch angenommen werden können.

Wie lässt sich der ROI bei einem Facebook-Fan messen?

Es gibt bereits einige Studien, in denen dieser Frage nachgegangen wird. Etwa die von Syncapse, die den Wert eines Facebook-Fans irgendwo in der Größenordnung von 123 US-Dollar festlegen. Wie sie auf diese Zahl gekommen sind, weiß wohl niemand. Doch die Tatsache, dass sich Leute heute hierüber Gedanken machen, ist erst einmal positiv zu bewerten. Wie auch immer: Man kann nicht etwas messen, von dem man nicht weiß, wie man es bewerten soll.

Schauen Sie sich die Facebook-Seite eines Unternehmens an, die Pinnwand oder die Tabs und versuchen Sie sich diese Frage selbst zu beantworten. Sie werden feststellen, dass dort eigentlich nur Markenwert zu finden ist. Kein Return on Engagement oder Return on Investment. Um den ROI zu ermitteln, muss zunächst einmal definiert werden, worin der Return überhaupt bestehen soll. Dann sind dementsprechend die Strategien anzupassen. Deshalb ist es auch so wichtig, die Social-Media-Aktivitäten aus dem Marketing herauszuholen: rein in den Vertrieb, in den Service. Erst dann kann die richtige Arbeit beginnen.

Im Social Web können Nutzer nicht wissen, ob ein Unternehmen überhaupt weiß, warum es dies oder jenes tut. Sie wissen aber sehr wohl, was ihnen gefällt oder nicht gefällt. Je mehr Unternehmen ohne richtige Kundenanalyse herumexperimentieren, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie etwas Vergleichbares wie Banner-Blindness auf ihre Facebook-Seiten bringen. Im klassischen Online-Marketing werden Banner heute völlig ignoriert – Click-Through-Rates und Conversion-Rates haben eine furchtbare Performance. Und dafür gibt es einen guten Grund! Sie bieten absolut keine Mehrwerte für die Kunden.

Im Social Web muss es einen Mehrwert für die Nutzer geben. Wer keine Werte bietet, erschafft zwangsläufig eine übersetzte Form von Banner-Blindness.

Was halten Sie davon, dass einige Unternehmen bereits mehr Traffic auf ihren Facebook-Seiten als auf ihren eigenen Websites verzeichnen, wie beispielsweise Disney? Geht hier nicht ein Stück Kontrolle verloren?

Einige Verantwortliche werden sagen: „Das ist eine schlechte Strategie! Die Facebook-Page hat mehr Traffic als unsere eigene Website?“ Doch wenn man sich auch hier vergegenwärtigt, dass es unterschiedliche Nutzertypen gibt: Der eine mag Websites, der andere mag Facebook-Pages. Wie das im Einzelnen aussieht, hängt vom jeweiligen Angebot ab.

Die Vorstellung, die Kontrolle behalten zu wollen, schränkt die Möglichkeiten von Unternehmen ein, von den Chancen zu profitieren. Wir haben nun eine mehr als zwanzigjährige Web-Geschichte hinter uns. Doch wenn man sich heutige Websites anschaut, lässt sich nur sagen, dass viele von ihnen den Nutzern ein furchtbares Erlebnis bieten: wie Inhalte erstellt werden, wie das Design aufgebaut ist, wie Unternehmen versuchen, ihre Kunden durch den Trichter zu drücken. Furchtbar! Und genau das rührt von der Vorstellung von „Kontrolle“. Unternehmen glauben fälschlicherweise, dass sie das Besuchererlebnis so formen können, dass es zu ihrem eigenen Vorteil ist.

Denken Sie einmal an Pressemitteilungen. Diese Mitteilungen sind eine Art von Kontrolle: Medium und Inhalt unterliegen der Kontrolle. Und dann lesen Sie den Text und sagen dem betreffenden PR-Mitarbeiter: „Wow! Das ist das Schrecklichste, was ich jemals gelesen habe! Haben Sie diese Pressemitteilung für mich geschrieben oder für Ihren Boss, der sie abnicken musste?“ Genau nach demselben Prinzip werden heute viele Websites gestrickt: damit sie den Bossen gefallen – nicht den Kunden. Ich denke nicht, dass die Website aussterben wird. Ich glaube aber, dass sie methodisch überarbeitet werden müssen, so wie es im Bereich von Social Media passiert. Die wichtigen Informationen sollen weiterhin schnell auffindbar sein – doch auch die Interaktion und der Dialog müssen eine Rolle spielen.

Ein anderes Beispiel: Denken Sie an eine Airline und versetzen Sie sich in die Rolle des vernetzten Kunden. Wenn ich mir ein Bild von der Fluggesellschaft machen möchte, werde ich nicht die Website des Unternehmens besuchen, ich werde nicht Google benutzen, um Alternativen heranzuziehen und tausendmal zu klicken. Ich umgehe das alles und wende mich direkt an meinen Social Feed und frage dort meine Freunde: „Ich muss von A nach B. Welche Airline ist dafür die beste?“ Dann treffe ich eine Entscheidung aufgrund der Antworten, die ich von den Leuten bekomme, denen ich vertraue.

Ich habe einmal die Probe aufs Exempel gemacht und mir angesehen, was im Social Web über eine bestimmte Airline alles geäußert wurde. Aus den Kommentaren habe ich eine Word-Cloud erstellt und die Worte waren … nun ja: sehr kräftig. Dann habe ich mir die Website der Airline vorgenommen und untersucht, wie sich das Unternehmen selbst darstellt. Ein völliger Unterschied! Was die Menschen erleben und wie Unternehmen sich selbst sehen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Das ist eine wichtige Feststellung, denn ich – der vernetzte Kunde – habe niemals die Website besucht. Ich habe ein soziales Netzwerk besucht, um zu erfahren, ob die Airline vertrauenswürdig ist. Das Unternehmen weiß nicht einmal davon, wie ihre Marke im Social Web geformt wird. Doch Marken werden nicht länger durch Unternehmen geschaffen. Sie werden durch die Kunden geformt.

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Crossposting: Dieser Artikel erschien auch auf adzine.de.
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2 Kommentar

  1. Andersrum gedacht, also „Medien sind die neuen Marken“ oder „Medien etablieren eigene Marken“ finde ich auch spannend 😉

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