Ich will keine innovative deutsche Stadt, ich will ein innovationsfreudiges Land. Und ich bin ein ziemlich gebranntes Kind, was Berlin angeht. Als eine Zeitung mich kürzlich bat, ein Tremolo auf den Norden zu halten, kramte ich in meiner Erinnerungskiste:
Berlin, das ich aufgrund einer Fernbeziehung häufig besuchen musste, tat das Übrige, als ich eines abends vor dem schäbigen Hauptgebäude des Schönefelder Flughafens stand und ein Taxi suchte: „Entschuldigen Sie, sind Sie frei?“ fragte ich höflich einen der Fahrer, die abseits der Wagen gemeinsam rauchten und lachten. „Ne, ick bin verheiratet. Kann dich jetzte abba trotzdem mitnehm’n.“
Das ist Berlin. Distinguierte Ignoranz (Hamburg) ist qualitativ etwas anderes als rohe Rotzigkeit (Berlin); doch emotionale Befindlichkeiten sollen hier keine Rolle spielen. Aber unter uns: Ich mag das Selbstbild der Berliner nicht sonderlich, wobei es ja kaum noch Berliner gibt, sondern vielmehr Zugereiste, Hängengebliebene und jede Menge Studenten, daher handelt es sich eher um einen Lokalpatriotismus im Vorbeigehen. Es scheint, dass heutzutage jeder als Berliner gilt, der „im Prenzlauer Berg“ und nicht „auf dem Prenzlauer Berg“ sagen kann, während er sich über die S-Bahn aufregt und den schlechten Handy-Empfang beklagt. Schon in diesem Moment wächst offenbar schlagartig das Hauptstädtische in einem heran und rechtfertigt die beiden Optionen „die da“ und „wir“. Denn andere Alternativen spielen in der Branche keine Rolle mehr.
Ich komme auf das Thema, weil mich mit steigender Frequenz Pressemitteilung erreichen, in denen ehemals verzweifelte PRler die krampfhafte Berlin-Synonymsuche (gern genommen wurden bislang: „Hauptstadt“, „Weltstadt“, „Hauptregierungssitz“ oder das völlig verdrehte „Spree-Athen“ – in diesen Tagen kein Kompliment) abkürzen und daraus ein „Silicon Valley Europas“ machen. Das Deutschlandradio hat noch mehr Begriffe im Programm und zitiert: „Die neue Internet-Hauptstadt“, „Neue Heimat der Internet-Generation“ und „Europe’s hottest startup capital“.
Kurze Info zum tatsächlichen Silicon Valley (Koordinaten: 37° 23′ 02″ N, 122° 2′ 0″ W): 7.000 Unternehmen sind hier ansässig, darunter Apple, AMD, Adobe, Google, Intel, HP, Nvidia, Oracle, Cisco, Electronic Arts, Facebook, Symantec, VMWare und Yahoo. Weltweit gibt es laut Wikipedia 34 Orte von Kärnten (Österreich) bis Campinas (Brasilien), die sich den Stempel „Silicon Valley“ selbst geben. Das Spree-Athen (yeah!) ist seit 2011 einer davon. Beim „Spiegel“ ist nachzulesen, dass der hervorragende Gründungsnährboden den billigen Mieten, der guten Verkehrsanbindung (innerhalb der Stadt sieht es offenbar anders aus) und der schieren Größe der Stadt geschuldet ist. Naja. Da mag was dran sein. Aber trotzdem – oder gerade deshalb – wundert es einen ja doch, dass die Tech-Juwelen der Stadt aus StudiVZ (ein Facebook-Klon), Wunderlist (eine To-Do-App), Amen (ein Dead-on-Arrival-Bewertungsportal) und Soundcloud (eine tatsächlich nette Musik-Community) bestehen.
Die Copycat-Geschichte sparen wir uns, das übernimmt die lokale Startup-Szene ja selbst. Zum Beispiel als die 6Wunderkinder vor einigen Monaten den Wunderbefreiungsschlag in Kleinbloggersdorf anzettelten: Man wolle ja auch mal darauf hinweisen, dass man originär arbeiten könne, hier in Berlin, und man einen Vergleich nicht zu scheuen brauche. Damit waren die Amerikaner gemeint. Das aus dem Mund eines To-Do-Listen-CEOs zu hören, war schon eine Wucht; die Leute in Übersee erstarrten vor Ehrfurcht. Andere Berliner Kollegen fassten die Aktion nicht ganz so locker auf und möhlten etwas von einer „assozialen Hetzkampagne„, die ebenso „rufmordend“ wie „geschäftsschädigend“ für die Berliner Szene sei.
Ist egal. Diese Standortfrage („Wer hat den höchsten Fernsehturm?“, „Wo ist die höchste iPhone-Penetrationsrate?“, „Welche Stadt hängt lieber vor dem Rechner als vor der Kiste ab?“) ist egal. Wie ich das sehe, hat Deutschland ein Problem. Ich habe schon einmal gesagt, dass wir in puncto Web-Innovation und Ideenklau die Chinesen Europas sind. Mir ist die Stadt egal, solange es vorwärts geht. Zentralismus ist in einem föderal organisierten Land wie Deutschland (in dem mal eben ein Bundesland Facebook den Hahn abdrehen will) eh Mumpitz. Ich will kein deutsches Silicon Valley. Kein gekünsteltes Epizentrum der Ideen. Ich will endlich eine innerdeutsche Kultur der Innovationsfreudigkeit, die uns und andere begeistert: Windows XP (Release-Datum Oktober 2001) und Internet Explorer 6 (Release-Datum Oktober 2001) und Outlook Express (Release-Datum Oktober 2001) zählen heute noch zur EDV vieler Unternehmen und Behörden – das sind Realitäten, mit denen man umgehen muss.
Also: Das ist kein Anti-Berlin-Post – es ist eher ein „Hallo Stuttgart! Hallo Köln! Hallo Berlin! Hallo Leipzig und Magdeburg! Hallo Kulmbach bei Weidenberg!“-Post. Vergessen wir doch die Standortfrage und kleingeistigen Städtestolz und beginnen wir endlich damit, uns Gedanken über Innovationen zu machen – und über gesellschaftliches Lobbying für den Fortschritt. Oder wie es Sven Regener auf dem Blauen Sofa beschrieb (ab 12:30 Minute):
Deutschland hat nicht dieses Ding: „Es gibt eine Metropole und die Provinz!“ So ist es nicht, das ist nicht wahr. Es ist nicht wie in Frankreich und es ist nicht wie im alten Rom. Von den dreißig größten Industriekonzernen hat nicht einer seinen Sitz in Berlin, alle Banken sitzen in Frankfurt, die Tagespresse in Hamburg, die Mode in Düsseldorf. Den Deutschen ist Berlin total egal. Was wiederum auch den Berlinern total egal ist. Das ist eine sehr gute Voraussetzung, um miteinander klar zu kommen. Das Dezentrale ist eine Chance.
8 Kommentar
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Cooler Artikel, hab ich gerne gelesen. Vielen Dank!
Und ein Gedanke dazu: Ist es nicht ohnehin merkwürdig, dass man in Zeiten des Internets (mit flexibleren Arbeitsplätzen und -zeiten) dann doch wieder einen lokalen [Offline-]Ort sucht, an dem man sich treffen und miteinander arbeiten kann? Merkwürdig in dem Sinne, dass dieser ganze Fortschritt eben doch noch eine lokale Ebene braucht – oder es zumindest noch nicht geschafft hat, diese im Kopf existierende Ebene endgültig obsolet zu machen.
Das Problem mit dem ganzen Social Web-Gedöns ist doch: Je mehr man sich damit beschäftigt, desto größer erscheint einem das. Größer, als es in Wirklichkeit vermutlich ist. Facebook und Google sind da die zwei wirklich großen Ausnahmen. Und die kommen aus den USA.
Btw: Hier noch ein interessanter Artikel aus amerikanischer Sicht. http://wadhwa.com/2011/11/22/washington-post-why-silicon-valley-should-fear-india/ Dort macht man sich eben eher Gedanken über China und Indien. Sprich: die Zukunft. 😉
Kann gerade nur nicken. 😉
Ist es jetzt schon wieder soweit, dass wir es schlecht zu finden haben, dass in Berlin Grundlagen gelegt werden, für die Zukunft?
Muss eine Stadt, die seit gerade mal 21 Jahren wiedervereint und sich bis dato selbst noch nicht so recht gefunden und (im Vergleich zu NY, LA, London, Paris) auch noch keine echte Metropole geworden ist, gleich innerhalb von Monaten zur Bastion der Internet-Neudefintion werden?
Gibt es außer im original Silicon Valley sonst noch so eine Häufung an Menschen mit Ideen einerseits, Menschen mit guter Bildung andererseits und einem nicht endenden Zustrom an fähigen Programmierern aus Osteuropa, die nur darauf warten, großartige Dinge umzusetzen?
Dein Artikel ist genau die deutsche Attitüde, die hemmt: Sie schränkt schon ein und kritisiert, ehe die Party begonnen hat. Du siehst nur das negative und nicht, dass ein Grundstein gelegt ist und in Berlin Großes wachsen kann, wenn man der Stadt und den Menschen Zeit gibt. Das Silicon Valley wurde auch nicht an einem Tag erschaffen.
‚„Entschuldigen Sie, sind Sie frei?“ fragte ich höflich einen der Fahrer, die abseits der Wagen gemeinsam rauchten und lachten. „Ne, ick bin verheiratet. Kann dich jetzte abba trotzdem mitnehm’n.“‘
Öhm, was davon ist a) schlimm und kann dir b) nicht auch am Kölner HBF passieren? 🙂
Ich kann mit diesem Artikel nicht richtig etwas anfangen. Ja, Berlin ist die Hauptstadt der Geltungssüchtigen digitalen Bohème. Ja, Berlin ist kein vergleichbarer Industriestandort. Aber das ist nun wahrlich nichts neues und es klingt eher wie das typische Lästern der zahlreichen Neuberliner, die nach zwei Jahren über die nach ihnen zugezogenen herziehen, obwohl sie alle seit geschätzt 20 Jahren die Mieten in die Höhe treiben. Dafür ist Berlin nach wie vor Kulturmetropole und Magnet für alle Kunstschafenden und Krativen nicht nur Mitteleuropas. Und die Frechheiten der Taxifahrer, Busfahrer und Bäcker kann man mögen oder nicht, aber mir sind in Berlin nur ganz normale höfliche Menschen begegnet.
Hat dein Berlin bashing mit deiner Fernbeziehung zu tun oder ist das einfach nur das typisch deutsche Gemosere? 😉
Amüsant ist, dass jeder behauptet in Berlin würden nur Zugezogene wohnen, als würden in Hamburg oder München nur „Eingeborene“ leben. Herrlich!