Über den #Neuland-Streit: Und es ist doch zum Kopfschütteln

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Da hatte sich Merkel schon für das lachsfarbene Kleid entschieden – und dann trotzdem das rote Tuch hervorgekramt: „Das Internet ist für uns alle Neuland“, verkündete sie im Rahmen des Obama/PRISM-Besuchs in gewohnt nervig-säuselnder Stimme und schon sprangen die Leute von ihren Sitzen. Zehn Prozent der Deutschen trommeln seitdem mit ihren Schwertern auf die Schilde, zwanzig Prozent belassen es bei einem ungläubigen Kopfschütteln, während 70 Prozent die Sache ja nun wirklich am Arsch vorbeigeht: entweder, sie haben nichts anderes erwartet oder es ist ihnen tatsächlich egal. Die zweite Gruppe dürfte hier den Löwenanteil ausmachen.

Daher ist es auch verständlich, dass dem Sturm der Entrüstung nun der ritterliche Verteidigungsschlag folgt: So unrecht habe die Merkel gar nicht. Zum einen sei Deutschland nun einmal ein digital-ungebildetes Seniorenland, zum anderen sei auf drängende Fragen der Netzpolitik bis heute keine Antwort gefunden worden. Überhaupt sei der polternde Reaktionsautomatismus der Digital Natives ebenso typisch wie peinlich und das müsse man sich ja mal durch den Kopf gehen lassen, diese Scheinheiligkeit.

Stimmt. Die Empörung im sogenannten Netz wird jedoch auch schnell verpuffen, so wie all die anderen Empörungen davor. Dazu sei übrigens gesagt: Twitter ist nicht das Internet – zumal nicht in Deutschland, wo gerade einmal sechs Prozent der Internetnutzer dort hin und wieder vorbeischauen (in erster Linie Blogger und Journalisten, die sich beim Vornamen kennen und artig gegenseitig zum Geburtstag gratulieren).

Dennoch finde ich die Empörung angemessen. Damit aus einem „Neuland“ ein bekanntes Land wird, muss etwas geschehen, so etwas regelt sich nicht von alleine. In puncto Entdeckergeist ist seit den Neunzigern – seitdem das Internet in Deutschland ankam – jedoch ziemlich wenig geschehen. Ein paar CeBIT-Eröffnungen, das war’s. Wirklich fleißig waren eine Bundesregierung nach der anderen auf der anderen Seite, auf jener der Repression. Das Internet (ein offenbar nunmehr 20 Jahre anhaltender Trend) wurde munter beschnitten: Zensursula, Staatstrojaner, Leistungsschutzrecht, Vorratsdatenspeicherung, Abbau der Netzneutralität – das haben sie schon gut drauf. Deutschland hat bisher mehr Kohle in den Abbau des Netzes als in dessen Aufbau gesteckt. Neue und damit endlich zeitgemäße Datenschutzgesetze werden verschleppt, die „Breitbandstrategie“ hat die bisherige digitale Spaltung munter vorangetrieben, es mangelt an Equipment in Schulen und Universitäten, es gibt Zwangsdepublikation von Inhalten Öffentlich-Rechtlicher, Startups werden behindert und Abmahnanwälte gefördert und die Liste der Verfehlungen geht weiter und weiter. Deutschland ist das einzige Land der Welt mit Impressumspflicht bei Facebook. Das Embedden von YouTube-Videos stellt künftig ein Vergehen dar. Kein Medium wurde in der deutschen Geschichte mehr geächtet, fremdreguliert und fortgeschoben, wie das Internet. In der heutigen, globalisierten Welt ist das ziemlich mutig.


Bevor das Internet zum medialen Alltag aller Deutschen gehört, wird also noch viel Zeit vergehen und ebenso lange wird die nüchterne Feststellung „Das Internet ist für uns alle Neuland“ Bestand haben. Merkels Worte zeugen nicht von Dummheit, sondern sind ein Armutszeugnis nicht nur verfehlter, sondern völlig ignorierter Netzpolitik. Wir sollten sie als ehrliche Selbstanzeige verstehen.

An dem Zustand wird sich auch nichts ändern, bis das Medium Internet in Berlin den Stellenwert eingeräumt bekommt, den es verdient. Das Netz braucht eine breite BRD-Lobby, Nutzer aller Altersstufen müssen ermutigt, nicht verängstigt werden. Wir brauchen Rechtssicherheit. Das sollte die Aufgabe der Bundesregierung sein. Ebenso können aber auch die Digital Natives mithelfen. Etwa, indem dem Urzeitmenschengeschrei dann irgendwann auch mal die Browser-Nachhilfestunde mit Oma und Opa folgt. Nicht vergessen: das sind die, die in diesem Land die Wahlen bestimmen.