Vor einigen Jahren betrat ich eine kleine Bäckerei in der Hamburger Europapassage. Es war kurz vor neun Uhr morgens, der Verkäufer war gerade dabei, die noch warmen Brötchen vom Rost in die Auslage zu werfen. Ich grüßte freundlich, doch als ich bestellen wollte, blickte der Mann nur kurz auf und stöhnte: „Wenn ich mich hier um jeden kümmern würde, käme ich zu gar nichts mehr!“ Ich drehte mich um und ging. Seitdem habe ich den Laden nie wieder besucht. Dabei waren die Brötchen dort eigentlich gar nicht mal so schlecht.
Das Erlebnis ist ziemlich symptomatisch für das, was wir den Verlust der Kunden- oder Nutzerzentrierung nennen können. Während der Bitte „Gehen Sie doch zum Händler Ihres Vertrauens“ vor ein paar Jahren noch leicht zu entsprechen war, kommen heute viele ins Grübeln. Ja, genau: wem vertrauen wir eigentlich noch? Welchem Händler, welchem Hersteller und welchem Dienstleister? Gerade deutsche Unternehmen sind darauf gedrillt, den Kontakt zum Kunden so schmerzfrei-punktuell wie möglich zu halten – was zum einen vordergründig finanzielle als auch kulturelle Hintergründe hat: Der Kunde ist das, was dem eigenen Angebot gegenübersteht. So war und ist das nun einmal…
Genau genommen gibt es drei vordefinierte Berührungspunkte, deren Intensität in der Folge abnehmen: Sales, Support und die Buchhaltung. Während der Verkauf geradezu liebevoll und manchmal sogar zeitintensiv inszeniert wird, wird der Support schnell und die Bezahlung oder der Rechnungseinzug geradezu hastig vorgenommen. Damit die Leerstellen zwischen den drei Punkten nicht hässlich herausstechen, werden die Lücken durch pseudo-holistische Konzepte des Marketings und der Public Relations gefüllt – eine sanfte Berieselungsdecke soll den Kunden bei offiziellem Nichtkontakt bei Laune halten oder doch zumindest die Marke immer wieder ins Gedächtnis rufen.
Als hätten die Unternehmen geradezu Angst, ihren Kunden beim Spektakel des eigentlichen Produkterlebnisses beizuwohnen.
„Ich hab echt keine Lust mehr!“
Wo wir schon dabei sind, hier noch ein paar Beispiele:
- Eine große Elektronikmarktkette wirbt auf Facebook, dass sie künftig den Preis des Wettbewerbs unterbieten wird: dazu reicht es aus, einen entsprechenden Prospekt mit in die Filiale zu bringen. Achja: „Die Angebote von Online-Shops werden nicht berücksichtigt.“
- Ein Telekommunikationsunternehmen veröffentlicht ein Monatsspecial, in dessen Rahmen einige Online-Tarifupgrades mit Gutschriften belohnt werden. Um ein Downgrade vorzunehmen, sollen sich Kunden aber nach wie vor an die kostenpflichtige Hotline wenden.
- Eine Veranstaltung verspricht „unkomplizierte Online-Anmeldung“, an deren Ende der Nutzer ein Word-Dokument herunterladen, es ausdrucken, unterzeichnen und den Scan per E-Mail zurückschicken muss.
- „Draußen nehmen wir keine EC-Karten: das dauert alles zu lange.“ – „Okay, und wo finde ich den nächsten Geldautomaten?“ – „Da drüben die Straße runter, dann rechts, dann bis zur nächsten Kreuzung. Da gegenüber.“ – in einem Kölner Biergarten
- „Was für eine Scheiße! Jetzt ist Jasmin wieder eine halbe Stunde früher in die Pause gegangen und ich muss ihren Kram hier mitmachen! Habe echt keine Lust mehr, es nervt echt! – (zum Kunden:) So, wie kann ich Ihnen helfen?“ – in einem Optikfachgeschäft
Die obigen Beispiele rufen regelmäßig WTF?!-Erlebnisse beim Kunden hervor. Oder distinguierter verfasst: sie sind harte Brüche in der Nutzererfahrung. Diese Klüfte sind das Resultat bewusster oder unbewusster Entscheidungen, die alle eines gemeinsam haben: sie stellen das Unternehmen, die Dienstleistung oder das Produkt in den Vordergrund. Der Kunde taucht in dieser Rechnung nur als Nebenfaktor auf. Und auch wenn das Angebot vielleicht top ist (günstiger Preis, Top-Qualität etc.) – der Kunde fällt aller Wahrscheinlichkeit nicht ein zweites Mal darauf rein.
Wie wichtig gut praktizierter Kundenzentrismus ist, zeigt mittlerweile jede x-beliebige Amazon-Rezension. Neben der eigentlichen Produktbewertung gibt es wiederkehrende Kriterien, die beeinflussen, ob sich der Daumen hebt oder senkt (gerade bei Drittanbietern): etwa Service, Verpackung und Versand, Kulanz, Beratung oder Freundlichkeit. Das Beiwerk muss stimmen, die Gesamtkomposition des Kauferlebnisses. Die Summe der Erfahrungsmomente bestimmt darüber, ob sich ein Kunde gut fühlt oder nicht. Und ob er verdientes Vertrauen gewonnen hat.
„So, Jungs! Wie vermarkten wir das?“
Als Beispiel par Excellence wird in diesem Kontext immer wieder Apple herangezogen, oder vielmehr Steve Jobs: „Wir wollten immer Produkte auf den Markt bringen, die wir selbst benutzen wollten“, war sein Credo. Nicht das Produkt, sondern der Nutzer stand im Vordergrund. Apple stellt keine Güter her, an deren Produktionskettenende die Frage steht: „So, Jungs! Jetzt die Frage: Wie vermarkten wir das?“ Das Produkt bietet konkrete Lösungen auf reale Probleme der Nutzer – so einfach ist das (zugegeben, diese können manchmal weniger wilder Natur sein). Um die Customer Experience bis zum Äußersten zu treiben, wird das Prinzip des Steckers überdacht, werden Design-Konsense über Bord geworfen und Packungen entworfen, die in puncto Storytelling jedem Germanisten die Tränen in die Augen treiben können. Wer einen Apple Store betritt, betritt eine Geschichte. Alles ist einzig und allein auf das Erlebnis ausgerichtet und um bei der Dramaturgie die Kontrolle zu behalten, arbeiten bei Apple – vom Produktdesign über den Vertrieb bis hin zum Home-Support – alle Hand in Hand. Als Steve Jobs davon hörte, dass man bald Macs im Media Markt kaufen könne, starb in jener Nacht ein Katzenbaby.
Während man also hierzulande an immer neuen Strategien der Kundenneu- oder rückgewinnung feilt und Geld verbrennt, ist man anderswo schon weiter: das User Experience Design hat in den Staaten den Sprung vom optimierten Web-Interface in alle Abteilungen der Unternehmen geschafft. Neben CEOs, CTOs und CFOs werden CXOs eingestellt – Chief Experience Officers. Viele deutsche Unternehmen beruhigen ihr Gewissen mit der Hilfe der quantitativen Marktforschung: Kam das Produkt an? Ist der Support zuverlässig? Ist die Rückversandsquote niedrig? Super! Tatsächlich aber wagt sich niemand an die Selbstprobe, beziehungsweise die Interaktion mit der eigenen Marke. Hat ein Deutsche Bahn-Manager schon einmal versucht, bei der eigenen Hotline anzurufen, um spezifische Informationen zu erhalten? Musste ein Telekom-Manager schon einmal freiwillig 45 Minuten in einem T-Store warten, bis ein „Service-Mitarbeiter“ verfügbar war? Hat ein OTTO-Manager schon einmal eine Reklamation beim eigenen Konzern beantragt?
Diese Fragen werden mit „nein“ beantwortet und zwar aus den Gründen a.) Zeit und b.) Kosten. Im Blick ist stets das große Ganze. Dabei lebt die Customer Experience vom Umgang mit dem Individuellen – vom Umgang mit dem einzelnen Kunden. Chief Experience Officers schlüpfen wie Doppelagenten in genau dessen Rolle und ermitteln, bei welchen Prozessen es hakt, wo das Zusammenspiel versagt. Die über allem schwebende Frage ist: „Wie fühle ich mich als Kunde? Bin ich zufrieden? Kann man mir das zumuten?“ Die Antworten auf diese Fragen lassen die beiden Argumente a.) und b.) blass aussehen.
Stille Post bis nach oben
Heute wird Kunden noch allzu viel zugemutet. Von heute auf morgen wird sich das auch nicht ändern, da die einzelnen Abteilungen eines Unternehmens wie Silos operieren. Der Mitarbeiter berichtet an den Vorgesetzten, dieser an den Gruppenleiter, der an den Abteilungsleiter, der an den Bereichsleiter und der – wenn Zeit bleibt – an das Management. Das Problem ist jedoch nicht nur, dass während der stillen Post bis zum Gipfel wichtige Informationen (aus Gründen der Schlampigkeit, Diskretion oder Reputation) auf der Strecke bleiben. Das Problem ist zugleich, dass die reagierenden Anweisungen wieder den Weg von oben zum einzelnen Mitarbeiter finden müssen. Das Customer Experience Management macht diesem Vorgang den sprichwörtlichen Strich durch die Rechnung: Was spricht – bitteschön – dagegen, dass Produktentwickler einen direkten Draht zur Kundenhotline haben; den Ort, an dem Tag für Tag Produktbeschwerden aufschlagen?
Der kundenzentrierte Ansatz in der Unternehmenswelt ist keine Hexenkunst. Es gibt genügend Erfahrungswerte und wissenschaftliche Methoden (morphologische Wirkungsforschung etc.), die jedes Vorhaben in diese Richtung auf ein solides Fundament stellen können. Es fehlt jedoch an Abstraktionsvermögen und Angstfreiheit. Wer möchte schon seinen Blick von den Verkaufszahlen lösen, um sich auf allen Stufen der Kunde-Marke-Interaktion prüfen und messen zu lassen?
Fakt ist ebenso, dass es bald keine Flucht mehr in die Vergangenheit gibt. Das Web 2.0 – allem voran die sozialen Netzwerke und ihre Transparenz – hat innerhalb weniger Jahre die Kontrolle über Marken von den Unternehmen auf die Kunden verlagert. Und im Sozial-Digitalen gibt es nur die Einzelmeinung (siehe Amazon), die individuelle Erfahrung, die entweder geteilt oder erwidert wird. Die einzige Möglichkeit, einen Kunden längerfristig an sich zu binden, besteht nicht im ausgeklügeltem Newsletter-Marketing, in Fanpage-Aktionen, Gewinnspielen und Samstags-Specials. Sie besteht darin, dem Nutzer das zu schenken, was er fordert: Vertrauen.
4 Kommentar
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Danke für den guten und sehr trefflich analytischen Text.
Danke! Dem kann ich mich nur 100% anschließen. Zeit wird´s, dass auch hierzulande Unternehmen diese Riesenchance im Zeitalter von „me too“ und Preiskampf nutzen. Zeit, Kunden nicht nur zufrieden zu stellen. Zeit, Kunden zu begeistern, zu überraschen – denn nur so erinnern sich Kunden an Ihr Erlebnis, an Unternehmen oder Dienstleistung. Und nur über genau diese emotionalen Erlebnisse wird auch mit anderen gesprochen. Und das genau ist es doch, was so viele Unternehmen über Empfehlungskärtchen und Co. erreichen wollen. Dabei gehts viel einfacher – mit Idee statt Budget. Dann könnten viele Momente der Wahrheit bald schon anders aussehen in Deutschland und zu wirklich berührenden Touchpoints werden, die berühren und Kunden wie Mitarbeitern Spaß machen! Angst vor Wahrheiten? oder:Warum lassen Sie die nächste Kundenfokusgruppe nicht Ihre Mitarbeiter moderieren? So ein Ausflug in die Kundenwelt ist an Wirkung nicht zu übertreffen 😉
Sehr schöner Artikel … vor allem, weil er auf einer Ebene arbeitet, wo das Problem verständlich wird. Und deutlich macht, dass für die „Customer Experience“ immer noch der Faktor Mensch eine eminent wichtige Rolle spielt. Seltsam nur, dass so wenige Unternehmen darauf Wert zu legen scheinen.
Die individuellen Eindrücke, die in dem Artikel geschildert werden, bestätigt eine Studie des amerikanischen Trainings-Unternehmens AchieveGlobal. Weltweit wurden 5.500 Kunden über ihre Erfahrungen mit Unternehmen befragt. Die Ergebnisse waren – aus Unternehmenssicht – teilweise verblüffend. Denn wer rechnet schon damit, dass der größte Nerv-Faktor in der Kundenbeziehung Unhöflichkeit oder unverschämtes Verhalten von Mitarbeitern gegenüber Kunden sein kann? Auf der anderen Seite: Wen wundert’s, dass es 47 % aller Befragten stört, wenn beim Kontakt mit Unternehmen am anderen Ende der Leitung kein Mensch, sondern eine Maschine eine Anfrage annimmt?
Letzenendes sind es grundmenschliche Stärken, die in der Customer Experience positive Erlebnisse hervorrufen. Respekt, Empathie, und im Fall eines Fehlers einfach mal „Entschuldigung“ sagen.
Wer sich jetzt für die Studie „Warum Kunden bleiben oder gehen“ interessiert, kann das Dokument kostenlos downloaden: http://www.achieveglobal.de/pages/de/know_how_center/wp_service/index.kommunikationstraining_fuer_servicekraefte_mitarbeiterschulung_im_kundendienst_basiert_auf_wissenschaftlichen_erkenntnissen.htm