Flucht von Twitter („X“):
Der Himmel ist nicht die Lösung Wir brauchen Social Media-Alternativen im "Deutschlandtempo"

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Christian Stöcker vom „Spiegel“ hatte kürzlich einen doch recht viel beachteten Aufruf auf Twitter gestartet: „Deutsche Ministerien, Parlamentarierinnen und Parlamentarier, Regierungsmitglieder haben hier nichts mehr verloren“, schrieb er. „Wenn sie geschlossen umziehen, geht der Journalismus mit. Und dann in der Folge alle anderen außer den Rechtsextremen.“

Er hat uneingeschränkt recht, wenn er Ex-Twitter „X“ als neue, digitale Heimat der Rechtsextremen beschreibt. Es gibt mittlerweile eine unendliche Menge an Hinweisen, dass das Netzwerk nicht nur rechte Schlagseite hat, sondern nahezu gänzlich in gefährlichen, radikalen Gewässern zu kentern droht. Der Besitzer Elon Musk bemüht sich nicht einmal mehr um Chiffren, um seinen Hass auf Minderheiten, Antisemitismus, Homo- und Transphobie zu kaschieren. Und er genießt schrankenlose Narrenfreiheit, wenn es darum geht, die Radikalisierung voranzutreiben. Bislang schauen Washington, Brüssel und natürlich Berlin nur überrascht und teilnahmslos zu.

Doch mit seinem Appell hat Stöcker unrecht.

Ich möchte das Folgende gar nicht an den Aufruf allein binden: Fest steht, es gibt eine Bewegung bislang wohl unbekannten Ausmaßes im deutschsprachen Netz. Viele Menschen fliehen vor dem toxischen Koloss Twitter oder werden von der Zentrifugalkraft des rechten Bullshits dort weggeschleudert. Vor einigen Monaten war für viele Mastodon der neue Zufluchtsort, doch die Hoffnungen haben sich für beinahe ebenso viele im fediversumschen Gewirr nicht erfüllt. Jack Dorseys Brainchild BlueSky soll nun kollektive Heimat der neu Entwurzelten werden. Das Netzwerk setzt wie Mastodon auf föderale Interoperabilität, hier heißt das Protokoll aber nicht „ActivityPub“, sondern „AT Protocol“, die Mechanik ist ganz ähnlich. Doch um der Frage nachzugehen, ob BlueSky als letztverbindliche Twitter-Alternative wirklich taugt, müssen wir erst einmal ganz vorne anfangen.

Wie wir hier gelandet sind

Wir haben alle in den vergangenen Jahren gesehen, dass soziale Medien durch Fake News, Hetze-Algorithmen, Shadowbanning, aggressive Bot-Armeen oder den Wildwuchs unkontrollierter Werbeposts in der Lage sind, nicht nur die Nutzer zu verunsichern, sondern ganze Demokratien zu destabilisieren. Zeugten wir bei den US-Präsidentschaftswahlen 2008 dem Gewinner Barack Obama noch anerkennenden Beifall für den Einsatz sozialer Medien beim Wahlkampf, so stehen wir fünfzehn Jahre später vor den dystopischen Trümmern der Idee, durch das Netz den demokratischen Diskurs fördern zu können. Und es geht sogar noch schlimmer, denn in Autokratien dienen sie mittlerweile erstranging der Überwachung, der Kontrolle der Bürger, oder sie fungieren als Propagandavehikel, die hinter den Kulissen nach Belieben staatlich justiert werden können.

Soziale Medien spielten im Leben der Menschen einmal eine andere Rolle. Viele Veränderungen haben mit der Art zu tun, wie sich die meisten von ihnen bis heute monetarisieren und zwar durch Werbung, die von Klicks, Engagement und Verweildauer immanent abhängig ist. Algorithmus-Tweaks haben mit der Zeit dafür gesorgt, dass immer häufiger zwei sich abstoßende Pole aufeinandertrafen: Aus dem Interesse der Nutzer wurde erst Irritation, dann Empörung und irgendwann ein lukratives Zerwürfnis, das dafür sorgt, dass wir uns immer länger und vor allem immer intensiver in Netzwerken bewegen. Die Deutschen verbringen mittlerweile 21 Stunden pro Woche auf Facebook, Instagram, Twitter und Co. Einundzwanzig Stunden!

Neben einer erwarteten Selbstbestätigung ist wohl der juckende Reiz des ständig schwelenden Konflikts der größte Antrieb zur Nutzung. Und worüber streiten sich Menschen am liebsten? Nicht über das leckerste Restaurant, die besten Segelfliegermodelle oder neue Kinofilme. Sie streiten sich über Themen, die den größten Einfluss auf die breite Masse haben, und früher oder später landen wir im kontroversen und so oft populistisch bespielten politischen Spektrum: Migration, Terror, Kriminalität, Klimawandel, moralischer Verfall, Steuern und so weiter.

Ich will damit nur sagen, dass der politische Streit der Gesellschaft in sozialen Netzwerken schnell zum politischen Krieg heranreift – und diese Mechanik ein gewolltes Ergebnis ist. Es ist Teil ihrer DNS und bis heute kann sich kein Betreiber einer rein werbefinanzierten sozialen Plattform von dem Gedanken frei machen, dass der brachiale Kampf im virtuellen Raum nicht auch ein bisschen geil ist.

Viele Jahre Unterricht

Mohandas Karamchand Gandhi (vulgo: Mahatma Gandhi) sagte einmal: „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“ Und ich glaube er hatte Recht.

Mark Zuckerberg brauchte als junger Mensch nur wenige Tage, bis seine ersten digitalen Unternehmungen zum Skandal führten. Am 28. Oktober 2003 launchte er „Facemash“, den Vorläufer von Facebook, das er als eine Art Hot-oder-Flop-Plattform aufsetzte. Auf der Seite wurden Bilder seiner Harvard-Kommilitoninnen jeweils gegenübergestellt. Die Fotos der jungen Frauen hatte er zuvor aus den Jahrbüchern geklaut. Als die Universitätsleitung dies mitbekam, wurde die Website sofort entfernt, Zuckerberg selbst wegen Verletzung des Urheberrechts und der Privatsphäre verklagt. Ein vielversprechender Anfang!

Ich habe jahrelang unter anderem mein Geld damit verdient, die nun für Zuckerberg und Facebook folgenden Eklats nachzuzeichnen. Angefangen von den ungefragt aus den Handy-Adressbüchern abgegriffenen Namen, Telefonnummern, E-Mail und Geburtstage von Nicht-Mitgliedern 2010. Da waren die verdeckt eingeführte automatischen Gesichtserkennung und die Kontroverse um den „Gefällt mir“-Button auf Drittseiten, der munter Daten abgriff. Private Daten und Fotos wurden lange Zeit nach dem Stilllegen des Accounts nicht gelöscht. Ebenfalls private Daten wurden ungefragt an wildfremde Unternehmen weitergegeben. Wir haben den Cambridge-Analytica-Skandal und Snowdens Aussage, dass Facebook mit der NSA beim Massenüberwachungs-Programm PRISM zusammengearbeitet hat. Wir hatten die politische Manipulation von Millionen von Wählern mittels einer gigantischen Schwemme anonymer Russen-Promoposts für Trump 2016. Es kam auch mal heraus, dass bei der Werbeschaltung Inhalte gezielt Schwarzen, Juden, Schwulen und Behinderten vorenthalten werden konnten. Wir lernten von Sean Parker über Dark Patterns und perverse Psychotricks, die Meta anwendet, um Nutzer auf Facebook und Instagram in Abhängigkeit zu halten. Bis 2018 stand die Leugnung des Holocausts noch unter dem Schutz der freien Rede. Während der Pandemie wurden Fake News rund um das Virus und die Impfung milliardenfach geteilt und je nach Empörungsgrad entsprechend in den Timelines gepusht. All die Jahre jagte eine Datenpanne die nächste, egal ob Hacker sich mühsam Zugriff verschafften oder das Tor zum Datentrog sperrangelweit offenstand – zuletzt tauchten Verkaufsangebote für Daten von einer 500 Millionen Nutzer aus hundert Ländern im Darkweb auf.

Autoaggressive Lernschwäche

Ich habe über die Zeit viel mit Juristen und Mitarbeitern von Datenschutzbehörden gesprochen und die Auftritte waren immer ganz rührselig – von der hochgereckten, geballten Faust bis zum metaphorischen Sprühstuhl war jede Reaktion dabei. Doch allen von ihnen hing immer das Gefühl abgrundtiefer Hilflosigkeit an, zweierlei gespeist: Zum einen herrschte und herrscht großer Frust über die offenkundige juristische Unantastbarkeit fast aller sozialen Netzwerke. Es ist nahezu unmöglich eine Veränderung in den Geschäftspraktiken herbeizuführen. Zum anderen fehlt aber auch völliges Verständnis für das Verhalten der Nutzer, die sich immer noch freiwillig dem digitalen Moloch in den Rachen werfen. Allen voran galt und gilt diese Kritik Behörden, Ministerien, Regierungsvertretern und Parteien, die allesamt als schlechte Vorbilder interpretiert werden. Es ist ein paradoxes Dilemma, dass der Staat jene Institutionen, die es eigentlich zu sanktionieren gilt, aufgrund des Wunsches nach Bürgernähe mit seiner Präsenz adelt. Das gilt nicht nur in Bezug auf Facebook.

Das frappierendste Beispiel für diesen Whatthefuckism liefert die SPD. Sie war es, die 2017 mit Heiko Maas maßgeblich das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz („NetzDG“) durch den Bundestag gepeitscht hatte. Seinerzeit herrschte große Aufregung angesichts von Hetze und Fake News in sozialen Netzwerken und das Gesetz verpflichtete ihre Betreiber, offensichtlich rechtswidrige Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach Eingang einer Beschwerde zu löschen. Da hielt und da hält sich bis heute keiner dran. Die russische Desinformationsplattform Telegram reagiert noch immer auf das NetzDG, als habe sie jemand mit einem Stück Nähseide geschlagen. Der Hass grassiert frei und offen.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) platzte daraufhin im Januar 2022 endgültig der Kragen und sie drohte sogar mit dem „Abschalten“ der Plattform (wie immer das gehen soll): „Wir sind ein Rechtsstaat, aber wir können auch das nicht per se ausschließen. Ein Abschalten wäre sehr schwerwiegend und ganz klar ultima ratio. Vorher müssen alle anderen Optionen erfolglos gewesen sein.“

Was wäre denn jetzt die geringste Erwartung der Beobachter? Dass sich die Partei doch etwa von Telegram fernhält oder? Ja, nur Pustekuchen: Die SPD selbst geht seit Jahren offen auf Stimmenfang im Trollnetzwerk. Zur Berlin-Wahl 2023 setzte sie sogar noch eins oben drauf und startete einen neuen Telegram-Kanal für ihre Spitzenkandidatin Franziska Giffey.

The sky is the limit

Und das bringt mich jetzt wieder zum Anfang. Taugt BlueSky als letztverbindliche Twitter-Alternative? Ich sehe da vor allem zwei Fragen, die jetzt eigentlich zuvörderst beantwortet werden müssten: Wie kann es sein, dass sich eine Plattform wie Twitter innerhalb so kurzer Zeit vor unseren Augen radikalisieren konnte? Ich sehe so viel strafbewehrtes Material in dem Netzwerk, dass ich mehrmals am Tag vom Rechner zurücktreten muss. Da verprügeln sich blutende Kinder gegenseitig, ich sehe Messergemetzel, im Todeskampf wimmernde Menschen, Erschießungen, da sind Enthauptungen, da sind Morddrohungen, Hakenkreuze, Volksverhetzungen und Verleumdungen – und wirklich alles, was man meldet, kommt von Twitter postwendend schulterzuckend zurück. Wenn Card blanche gespielt wird, entspricht einfach alles den Community Guidelines. Und selbst bei Anzeigen scheinen sich die Behörden nur mit leerem Blick ratlos gegenseitig anzusehen. Es passiert nichts. Gar nichts. Nada. Die wohl wichtigste Diskursplattform auch der deutschen Politik wurde zur Fanatismusfabrik, weil es einfach alle zuließen. Es ist ihnen kackegal. Wird sich das in Zukunft ändern?

So, und jetzt zu Bluesky: Wer betreibt das Netzwerk und wie wird es reguliert? Wem ist Bluesky PBLLC gegenüber rechenschaftspflichtig? Warum haben weder die Hauptseite des Netzwerks (für unangemeldete Nutzer), noch die Seite der gemeinnützigen Gesellschaft oder die Seite („© 2023 Bluesky, PBC. All rights reserved.“) des AT Protocols eine Datenschutzerklärung? Es gibt Hinweise zur Privacy Policy für das Netzwerk, in der aber das Akronym „GDPR“ nicht einmal vorkommt – es hapert ein wenig an Respekt für europäisches Datenschutzrecht oder?

Gut, weiter: Wie wird Bluesky refinanziert? Wo kommen jetzt die Gelder her und wer hat Interesse an der Investition? Wird es einmal Werbung geben oder führt die gemeinnützige, aber profitorientierte Gesellschaft in der Zukunft Bezahlmodelle ein? Wie wird die Moderation gewährleistet, wenn nur eine Handvoll US-Entwickler das Projekt derzeit vorantreibt? Sprechen die alle Deutsch und sind sie in der Lage, Kontexte zu verstehen? Kann das NetzDG überhaupt greifen oder wird das Content Management alleine dem Programmcode überlassen? Welche Algorithmen bestimmen am Ende die Sichtbarkeit der Posts?

Im Juni 2023 meldete sich auf Bluesky ein rassistischer Nutzer mit dem N-Wort im Handle an. Wochenlang trieb er auf der Plattform sein Unwesen – die Gesellschaft ließ es trotz breiter Kritik geschehen. Gestoppt wurde er erst, als die Investoren entnervt auf die Barrikaden gingen. Auf eine Entschuldigung warten sie bis heute. Das „Fortune“-Magazin konnte eine Mail an die Geschäftsleitung abgreifen: „We have been bombarded with people asking why a simple apology hasn’t been offered“, schreiben die Investoren. „We want to support you. We have shown you this by giving you money, social capital, and most importantly, the thing we have the least of and is most precious to us: offers of our time. This is becoming increasingly hard as we feel ignored, and we can’t help but feel like your actions are anti-Black by not addressing the issues and your part in them.“

Ist das jetzt der neue Sehnsuchtsort der Vertriebenen?

Das unendlich lange Warten auf die Alternative

Ich möchte kein Party Pooper sein. Ich weiß, ich habe in der Vergangenheit schon Mastodon als sichere Alternative aussortiert. Und ich verstehe den Druck, den Musks wachsender Extremismus für alle Nutzer verursacht. Doch es kann nicht die Lösung sein, Kopflosigkeit zum Prinzip zu erklären und von einem Elend in die nächste Unsicherheit zu laufen. Dafür hatten wir alle in der völlig unregulierten Vergangenheit zu viel Unterricht. „Move fast and break things“, gab es genug.

Denn Social Media, das ist kein Spiel. Heute entscheiden die Netzwerke über die Zukunft von ganzen Demokratien und vom einfachen Klick zum Fackelmarsch im Gleichschritt ist nicht mehr viel nötig. Die Steuerung dieser gesellschaftlichen Infrastrukturen ist nicht länger Aufgabe frustrierter Nutzer, Techies und Influencer. Es wird Zeit, dass dies von der Gesellschaft und vor allem von der Politik, dem Staat, verstanden wird. Wir brauchen sichere, faire und demokratische Diskursräume!

Bluesky hat im Juli dieses Jahres erst eine Anschubfinanzierung von acht Millionen Dollar (7,6 Millionen Euro) bekommen. Diese Summe soll jetzt darüber entscheiden, ob Trump im kommenden Jahr erneut US-Präsident werden oder die AfD im deutschen Osten die 40 Prozentmarke knacken könnte? Das kann nicht unser Ernst sein! Wir brauchen eigene Lösungen, deutsche, besser europäische. Ob es ein Modell nach ÖRR-Vorbild wird, eine staatlich geförderte unabhängige Stiftung, mit Moderation beauftragte NGOs, wie auch immer: Die Demokratie verdient mehr als das, was wir ihr bislang geboten haben. Wir brauchen neue Strukturen, die jetzt erbaut werden müssen. Gerne auch im „Deutschlandtempo“.