Egal ob X, Threads oder Blue Sky:
Social Media ist alternativlos Die sozialen Netzwerke befindet sich in einer Krise – manche plädieren schon zum Rückzug. Zu unrecht.

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Drüben auf „Der Standard“ schreibt Stefan Mey gerade über sein persönliches Fazit zur Social-Media-Krise: „Egal ob X, Threads oder Blue Sky: Social Media ist Zeitverschwendung!“ Er plädiert für den geordneten Rückzug, der „Neuigkeitswert“ dieser Plattformen sei in den vergangenen Jahren verflogen, „es ist nicht mehr cool, wenn es alle tun“. Was interessant ist: Mey beschreibt soziale Netze dabei sehr sympathisch als „virtuelle Orte, an denen man alte und neue Freunde traf“ und so habe ich sie eigentlich nie empfunden.

Für mich wären die öffentlichen soziale Netze sogar der letzte Ort für Freundschaftspflege – Familiäres, Freundschaftliches und Privates gehören in P2P-verschlüsselte Messenger. Außerdem fehlt dem Urteil auch der Blick auf die Definition sozialer Medien. Es gibt Zerstreuungsnetzwerke, wie YouTube, TikTok, Snap oder Insta. Und dann gibt es Diskursnetzwerke: Twitter („X“), Threads, Mastodon, Bluesky, zum Teil auch Facebook. Diese Plattformen haben heute eine außerordentliche Bedeutung, was die globale Informationsdistribution angeht. Kein Newsflash, keine Meldung von AP, Reuters oder Bloomberg verbreitet sich schneller als ein Tweet, der hohe Relevanz für eine breite Masse besitzt.

Überleben in der Nachrichtenflut

Ich mache jetzt eine kurze Zeitreise, zurück in die Tage, in der ich für „Basic Thinking“ den Laden schmiss – was sehr lange her ist. Und es war immer viel zu tun, schon in der U-Bahn morgen ging das Handy-Gewische los, es hörte auch weit nach Feierabend nicht auf. Die Situation im Büro: Während links der RSS-Feed unaufhörlich ratterte (das kennen nur noch die Älteren), schob sich rechts eine Agentur-Headline über die andere, während vor einem das Mailprogramm versuchte, der stündlichen Flut der Pressemitteilung Herr zu werden. Das Sondieren und Gewichten der Nachrichtenlage war damals ein anstrengendes, später aber ein nicht mehr zu bewältigendes Geschäft. Deshalb musste übrigens auch RSS sterben – zu langsam, zu korsettartig und gleichzeitig zu unfokussiert.

Das Problem hieß „Nachrichtenflut“ und die sozialen Medien waren die Lösung. Im März 2008 kam Facebook nach Deutschland, Twitter wurde 2006 geboren und ich erinnere mich so grob daran, dass ich drei Jahre später auf den ersten „Twittwochs“ abhing. Seit dieser Zeit benutze ich diskursive Social Media aus zweierlei Gründen: Zum einen, um die eigenen Gedanken zu sortieren. Wenn ich in der Lage bin, Sachverhalte auch für Dritte kohärent zu verschriftlichen, muss ich sie in der Regel auch kognitiv durchdrungen haben. Das ist das eine. Und das andere ist der menschliche Filter.

Albert Einstein soll einmal gesagt haben: „Wissen heißt wissen, wo es geschrieben steht.“ – und dieser Satz wird immer wahrer, je älter das Bonmot wird. Die Informationsexplosion der Neuzeit macht es unmöglich, universell auf dem Laufenden zu bleiben. Sagte ich eben, Facebook startete 2008 in Deutschland? Nach den Berechnungen von Solla Price wächst das Wissen der Menschheit seit Mitte des 17. Jahrhunderts mit einer Verdopplungszeit von ungefähr 15 Jahren exponentiell. Diese 15 Jahre sind alleine seit Facebooks Deutschland-Start vergangen.

Die Bedeutung menschlicher Filter

Es ist unmöglich, den Fels in der Informationsbrandung zu geben und alles in sich aufzunehmen. Stand heute kann auch kein KI-Sprachmodell die Aufgabe übernehmen. Hier liegt das Handicap noch in der Kombination aus zeitlichem Lag sowie fehlender Personalisierung und Blick etwa für gesellschaftliche Relevanz. Kommt noch, vielleicht.

Doch wenn wir Nutzer uns aufteilen, Spezialisten vertrauen und intelligente Knotenpunkte – menschliche Filter – bilden, müssen wir das auch gar nicht! Ich brauche nicht eintausend Meldung zum Thema SEO kursorisch zu überfliegen, wenn ich der SEO-Spezialistin folge, die die wichtigsten Entwicklungen ihres Fachs bereitwillig mit anderen teilt. Sie durchdringt neue Themen, trifft eine Auswahl der Relevanz, gibt dazu Kontext und ich kann mir sicher sein, auf dem Laufenden zu bleiben. Medienjournalismus? Klick, klick, klick – ich folge den Jungs. Tech-News? Klick. CRM? Klick. PR? Klick. UX? Klick. Politik? Klick. Korbflechten? Klick! Mit jedem Klick schwindet die Last, selbst die Aktualität ganzer Themenblöcke zu überblicken. Und nicht nur das: Diese soziale Mechanik der Informationsvermittlung beherbergt immer das kleine Zahnrad der Serendipität. Ich lerne Dinge, über die ich in hundert Jahren Selbststudium nicht einmal erfahren hätte, dass es sie überhaupt gibt.

Warum die Leute das tun – kostenlos auch noch? Reputation Management. Ein jeder ist in seinem Fach beruflich unterwegs und repräsentiert entweder das eigene Können, sein Expertenwissen als Freelancer oder zeigt Einblicke in ein Unternehmen, das – „Wie schaffen die das nur zeitlich?“ – immer up-to-date ist: Besser als jeder Lebenslauf, besser als jedes „Über uns“-Textgewürge auf der Corporate-Website.

Geheime Feed-Tweaks

Wir sehen, mit der Definition diskursiver sozialer Medien als global wichtigste Informationsrelais (und Orte der Selbstvermarktung) haben wir uns vom zeitverschwendenden Familiennetzwerk doch mittlerweile weit entfernt. Was uns zur Frage bringt: Wo ist denn jetzt überhaupt das Problem?

Im Grunde ist das Problem lange bekannt, die Wurzel allen Netzwerkübels: Es sind fantasielose Vermarktungsstrategien, die in erster Linie daraus bestehen, a.) so viel wie möglich persönliche Daten der Nutzer einzusammeln, um b.) diese dann so lange wie möglich im Netzwerk gefangen zu halten, damit sie passgenaue Werbung sehen. Jede dort verbrachte Minute, jeder Klick, lässt die Kasse klingeln.

Dazu wird seit über einem Jahrzehnt am Algorithmus geschraubt, jener intransparenten Mechanik, die unsere Feeds einst von dummer Chronologie befreite. Es war ein Gewinn, denn als sich die Nachrichtenflut immer höher auftürmte, reichte selbst das handverlesene Quellen-Picking für die Übersichtlichkeit nicht mehr aus. Der Algorithmus fasste die inhaltliche Gleichmacherei in ein Relevanzgerüst: Eine Uhrzeit ist und bleibt kein Marker für Wichtigkeit. Wie die Spielregeln dazu unter der Oberfläche aussahen, interessierte die wenigsten, denn das Ergebnis war durchaus alltagstauglich und machte wenig Probleme. Und selbst wenn, so ist das Getriebe eines jeden Netzwerks ein intransparentes Geschäftsgeheimnis, in das bis heute weder Wettbewerbshüter, Regulierer noch die Justiz in aller Regel Einsicht erhalten.

Doch der Werbedruck veränderte unsere Feeds, die nun immer stärker von dem dominiert wurden, was vermarktbar und immer weniger von dem, was relevant war. Manches passte nicht mehr, manches veränderte sich mit jedem Algorithmus-Update auch einen Tick zu spürbar. Vor allem Unternehmen merkten, wie ihre organische Reichweite netzwerkübergreifend sank, die Sichtbarkeit nahm ab, der Druck zur Schaltung kostenpflichtiger Anzeigen stieg.

Internet-Caligula Elon Musk: „Geld oder Stimme!“

Die Toleranz vieler Nutzer ist sehr dehnbar, vielen wurde aber erstmals und endgültig die Augen geöffnet, als Elon Musk vollkommen unverblümt bekundete, dass fortan unabhängig vom Inhalt nur noch Posts entsprechende Relevanzmarker bekämen, wenn der jeweilige Autor über ein kostenpflichtiges Premiumkonto verfüge. Alle anderen würden in der Sichtbarkeit abgestraft: „Geld oder Stimme!“ Die Eingriffe gingen weiter, wie ein Caligula des Internets verschob Musk per Fingerzeig ganze Nachrichtenströme, hob manche in den Vordergrund, ließ andere völlig verschwinden und zerstörte so die letzte Glaubwürdigkeit des Netzwerks – mit zum Teil schon nach kurzer Zeit gravierenden Folgen für Gesellschaften weltweit.



Die Relevanz diskursiver sozialer Netzwerke hat nicht abgenommen, im Gegenteil: sie sind wichtiger denn je. Wer sich verabschiedet, muss gleichzeitig in Kauf nehmen, dass der Korpus seiner Quellen binnen Sekunden in Bruchteile zerfällt – zudem vertieft die Umstellung vieler Medien auf Bezahl-Content die Abschottung. Wir sind mittlerweile umgeben von Paywalls. Das mag für einige okay sein, ob ein schrumpfender Meinungspluralismus in diesen aufwühlenden Zeiten aber eine Spitzenidee ist, mag ich bezweifeln.

Biedermeier 2.0: Rückzug in die Isolation?

Das Problem ist die Intransparenz der Netzwerke, die undurchschaubare oder auch grässlich durchschaubare Art, wie sie ihre Inhalte distribuieren und gewichten. Mey schlägt vor: „Die Antwort auf diese Entwicklung kann nur sein, in kleinere Communitys zu wechseln, bei denen nicht alle Menschen in einen Topf geworfen werden, sondern man sich auf Basis gemeinsamer Interessen findet.“ Das Netz als Inselreich facettenreicher Partikularinteressen? Ein biedermeierscher Rückzug in die Vereinzelung? Mitglied wie vieler isolierter Communitys müsste ich dann werden? Welche Experten würden ihre Reichweite aufgeben und wie würden wir sie finden? Wer schon einmal versucht hat, seinen Bekanntenkreis zum Umzug von WhatsApp zu Signal zu bewegen, weiß, wie schlecht es im Digitalen um den Migrationswillen bestellt ist. Und vielleicht noch wichtiger: Wo bleibt das Korrektiv von außen? Es sind gerade die kleinen, abgeschlossenen Communitys (denken wir an Facebook-Gruppen, denken wir an Telegram-Gruppen), in denen nahezu anarchisch organisiert die Radikalisierung schneller als woanders voranschreitet. Die Hemmungen fallen, Abgründe tun sich da auf.

Nein, die Zerschlagung großer Netzwerke zu Gunsten unzähliger Miniforen kann nicht die Lösung sein. Und ich sage gleich: Ich kann auch keinen eigenen tragbaren Lösungsansatz bieten. Noch nicht. Die Entwicklung hin zur Dezentralisierung, vielleicht Entkommerzialisierung und vor allem zur Open-Source-Transparenz ist ein richtig guter Schritt, hat auf der anderen Seite aber auch wieder viele Nachteile im Gepäck.

Ich kann nur an das Durchhaltevermögen appellieren. Es ist gerade etwas dabei, zu entstehen. Viele neue Ideen sind im Raum, bislang ungeahnte Verknüpfungen bilden sich (streckt Meta die Fühler wirklich in das Fediverse aus?), unbekannte Geschäftsmodelle werden erprobt, Dinge werden sich absehbar konsolidieren. Es ist natürlich durchaus angebracht, zu reagieren: Wer berechtigt protestieren und seinen X-Account stilllegen möchte, soll dies tun; wer Zuckerberg nicht traut, die Finger von Threads lassen. Wer eine Pause einlegen möchte, sollte nicht zögern – es ist ja auch alles anstrengend.

Ich sehe aber langfristig keine Alternative im Rückzug ins Forum-Séparée, auch nicht in der Chronologie der RSS-Feeds oder im Medienverzicht. Wir brauchen das Wissen anderer Menschen, wir brauchen menschliche Einordnung für das Kontextverständnis, wir brauchen Glaubwürdigkeit und Vertrauen. All das muss ein gutes soziales Netzwerk leisten. Und das braucht noch seine Zeit.

Mockup: Sacha Nati, CC-BY