Verdrehte Fakten, schlechte Recherchen, offene Lügen und dreiste Schamlosigkeit – das hat es im deutschen Journalismus schon lange gegeben, auch abseits der Springer-Presse, deren inhaltlicher Kurs seit Jahren vom Chef Döpfner („Free west, fuck the intolerant muslims und all das andere Gesochs!“) mit harter Hand vorgegeben wird. Doch noch nie in der Geschichte der deutschen Presse gab es eine Marke, die all dies ausnahmslos bündelte und strukturell sämtliche journalistische Standards so verachtete wie „Nius“. Das rechte Meinungsportal wurde im Sommer 2023 vom CDU-nahen Milliardär Frank Gotthardt aus der Taufe gehoben, an die Spitze stellte er den aus eigenem Verschulden in Ungnade gefallenen Julian Reichelt („Bumsen, belügen, wegwerfen!“), Ex-Chefredakteur der „Bild“. Ziel war und ist der Aufbau einer deutschtümelnden Kopie des US-Meinungssenders Fox News, ohne den der Begriff „Fake News“ wohl niemals seine heutige Semantik bekommen hätte.
Die fünf „Nius“-Säulen
Das Themenkarussel wird grob durch fünf Topoi dominiert: Da wäre der Hass auf die Grünen, die binnen kürzester Zeit in einzigartiger Weise zur Sündenbockpartei avancierten und schiedsgerichtsartig auf der Stelle für alles schuldig gesprochen werden, was einer reformunwilligen Gesellschaft im Angesicht des unaufhaltsamen Wandels zwangsläufig aufgebürdet wird. Direkt an zweiter Stelle entlädt sich die unbändige Abscheu vor den Minderheiten, meist Gesellschaftsschichten, die im Zuge hauchzarter progressiver Politik in jüngster Zeit erstmals Rechte erlangten: Schwule, Lesben, queere Leute und Transsexuelle. An dritter Stelle folgt die offene Feindschaft dem Islam, seinen Vertretern und den Geflüchteten gegenüber. Hier gibt es keine Abweichung vom Generalverdacht und der Sippenhaft, denn auch wenn der verschwörungstheoretische Begriff der „Umvolkung“ nicht explizit genannt wird, so ist er doch das bedrohliche Fazit eines jeden Stücks. Als apologetisches Feigenblatt, als Rechtfertigung oder weirde Spontanwiedergutmachung, dient dann der überdramatisch zur Schau gestellte Antisemitismus, den Reichelt wohl aus seiner Springer-Zeit mit hinüberrettete: Denn der Moslem ist der Feind des Juden und der Feind des Juden ist auch der Feind Deutschlands – so einfach ist die Rechtfertigung eines offenen Rassismus‘. Damit bleibt das fünfte Thema, das sich quasi quer durch die Gesellschaft frisst und sich im besten im Phänomen der Wissenschaftsfeindlichkeit zusammenfassen lässt. Ob Klimawandel oder die Wirksamkeit von Impfung und Masken im Umgang mit Corona – alles wird bezweifelt, alles wird zurückgewiesen, für jede noch so abwegige Gegentheorie werden Experten heranzitiert, die dann in berechenbarer Zuverlässigkeit relativ schnell zur kopfschüttelnden Diagnose „Reine Hysterie!“ gelangen.
„Kulturkämpfe entfachen, um von Klassenkämpfen abzulenken.“ – so fasste die „Frankfurter Rundschau“ den Daseinszweck des Demagogennetzwerks „Nius“ jüngst zusammen und ich denke, es handelt sich um eine treffende Beschreibung. In nicht allzu ferner Zukunft wird es Bachelor- und Masterarbeiten über den Werkzeugkoffer geben, den das Portal nutzte und nutzt, um seine Ziele zu erreichen: Nicht einen, sondern gleich mehrere Keile in die Gesellschaft zu treiben, das Weltbild einer radikalen Splittergruppe als Mehrheitsmeinung zu verkaufen und die rechtsextremen Ränder im politischen Spektrum kontinuierlich zu stärken. Deshalb möchte ich mich hier nur einen winzig kleinen Ausschnitt konzentrieren, denn – so wirkt es – bislang scheint alleine die Aufklärung über die Strategien der Hassverbreitung als eine Art Gegengift zu wirken. Es soll um die Rolle der Paywalls gehen.
Ein Schläfer in der Mannschaft?
Seit Februar 2024 prüft die Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MaBB), ob ein Aufsichtsverfahren gegen „Nius“ in Gang gesetzt werden muss. Bis heute gibt es kein Ergebnis. Kurz nach dem Launch der Seite vergangenes Jahr erstattete Alfonso Pantisano, der Queerbeauftragte der Berliner Senatsverwaltung, Anzeige gegen Reichelt und sein Team wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung. Auch hier folgten bislang keine Konsequenzen. Und zuletzt stellten der Fußball-Nationalspieler Antonio Rüdiger und der DFB getrennt voneinander Strafanzeige gegen Julian Reichelt. Dieser hatte zuvor ein Foto-Posting auf Instagram des Sportlers als Anlass genommen, den Spieler als ISIS-Terroristen oder doch zumindest als -Sympathisanten darzustellen. Auf dem Bild sieht man Rüdiger beim Gebet, während er seinen rechten Zeigefinger emporreckt – eine Geste des Glaubensbekenntnisses, deren Geschichte im Islam mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht. Auch diese Strafanzeigen blieben in der kurzen Zeit völlig wirkungslos; zumindest im Juristischen. Im Emotionalen wiederum schienen sie bei Reichelt nun endgültig einen inneren Groll gegen den DFB ausgelöst zu haben.
Denn wir hatten ja gerade erst die kontroverse Diskussion über das neue DFB-Trikot für Auswärtsspiele, das einen violetten bis rosa Farbverlauf zeigt: Eine fatale Farbkombination, die – folgt man der zusammengefassten Argumentation von „Nius“ – aus unserer Nationalmannschaft ein effeminiertes Bündel voll schutzbedürftiger Empfindsamkeit macht, quasi schwul, weil die rosa Farbe als unausweichlicher Cock-Blocker auf dem Felde wirkt, unsere Jungs in verweichlichte „Barbie-Boys“ verwandelt.
Da fügte sich für Reichelt alles zu einem weiteren Glücksfall, als kurze Zeit später das zweite Trikot (Inland) des DFBs die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zog. Einigen Fans war aufgefallen, dass die vom Ausrüster Adidas für die Rückennummer benutzte Schriftart dafür sorgte, dass zwei Vieren eine Ähnlichkeit zu dem Symbol entstehen ließ, das die nationalsozialistische Schutzstaffel einst benutzte: zwei SS-Runen. Warf man dann noch die Tatsache in die Rechnung, dass die Rückseite des Trikots mit einem frei wählbaren Namen (etwa „Führer“) auf Bestellung bedruckt werden konnte, war der Skandal perfekt!
Angst vor Ziffernverbot in Deutschland
Natürlich nicht für Reichelt und „Nius“. Hier sah man im nun folgenden Verkaufsstopp eines Shirts mit der Aufschrift „Führer / SS“ eher den woken Zensurversuch einer omnipräsenten Cancel Culture. Nein: Reichelt stieß sich vielmehr am vermeintlichen Pharisäertum, an der Heuchelei, die mit zweierlei Maß agierte: Warum sind denn – bitte schön?! –S-Runensymbole verboten, während der schwarze Nationalspieler Rüdiger weiter seinen Zeigefinger als Kriegserklärung gen Westen erheben darf? Populistischer Whataboutism ohne jedweden journalistischen Mehrwert.
Und jetzt wird es halt schon spannend, wenn man mal nachsieht, wie Reichelt diesen Brainfuck verargumentiert: Er stützt sich dabei auf einen Artikel bei Bild.de, den er explizit verlinkt und der hinter der „BildPlus“-Paywall sorgsam versteckt wurde. Lesern bietet sich dort nur ein Teaserbild, auf dem Nationalspieler Jonathan Tah von hinten mit seiner Rückennummer „4“ fotografiert wurde, darunter die Headline: „DFB stoppt Auslieferung bestellter Trikots!“ Wer immer diese Seite sieht, wird nicht in der Lage sein, einen Zusammenhang zwischen Tahs „4“ und Heinrich Himmlers SS herzustellen – es ist völlig unmöglich. Die Überschrift suggeriert somit bewusst, dass wieder irgendetwas Irres passiert sein muss. Etwas Wokes. Etwas Grünes! Verboten werden mittlerweile nicht länger nur Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen, sondern auch einzelne, unschuldige Ziffern! Das ist Deutschland 2024!
Gewollte Text-Bild-Scheren für Bezahlschrankentexte
Und so behauptet dann Reichelt auf Rückfrage mit schmallippigem Verweis auf den „Bild“-Text auch genau das: „Laut BILD wird die 4 verboten, nicht nur die 44.“ Das ist natürlich Quatsch, der Artikel nimmt aus dargestellten Gründen explizit Bezug auf die „44“, er erwähnt nicht einmal die einzelne „4“. Doch Reichelt weiß, dass man ihm nur schwer auf die Schliche kommen dürfte. Denn um die Wahrheit zu erfahren, braucht es ja ein bezahltes „BildPlus“-Abo – und wer hat das schon?
Auf diese Weise lässt sich mit Verweis auf Paywall-Artikel erst einmal affirmativ alles behaupten. Die Sucht der Verlage, als Gatekeeper vermeintlich exklusiver Informationen immer irrere Teaser mittels Clickbait-Headlines, retuschierter Fotos oder gewollten Text-Bild-Scheren zu basteln, die Nutzer in zahlende Kundschaft verwandeln sollen, stärkt diese Mechanik. Im Grunde braucht es in Zeiten der „Deregulierung des Wahrheitsmarktes“ gar keine Autoritäten mehr, auf die man sich stützen müsste, denn Desinformation wird im Hier und Jetzt erfunden und je nach Medien- und Informationskompetenz des jeweiligen Rezipienten sofort geschluckt, wo sie zuvor gebraut wurde. Nur dort, wo der leise Zweifel keimt, lohnt sich in der Tat hin und wieder der beiläufige Verweis auf irgendein Leitmedium, das den eigentlichen Inhalt der Nachricht aber hinter Bezahlschranken sicher versteckt hält.
Morddrohungen aus Schlumpfhausen
So gut sich Paywall-Artikel als Verstärker pseudojournalistischer Storys instrumentalisieren lassen, so versagen sie auch als Korrektiv. Das ließ sich zuletzt recht gut am Fall des „Schlumpf-Gates“ nachvollziehen, bei dem – glaubt man dem Springer-Boulevard und „Nius“ – eine junge Schülerin in Mecklenburg-Vorpommern während des Unterrichts von Polizisten abgeführt und zum Verhör gezerrt wurde. Der Direktor habe das unschuldige Mädchen nach einem Tipp böswillig denunziert, dabei habe sie zuvor lediglich ein fantasievolles „Schlumpfvideo“ in den sozialen Medien geteilt; irgendwo seien dabei auch die Worte „Heimat“ und „AfD“ gefallen, aber – mein Gott! – was ist denn mit diesem Land los, dass deshalb die Staatsmacht über unsere Kinder herfällt?!
Und so machten „Bild“, „Nius“ und AfD unisono zornige Stimmung, es gab Stasi-Vergleiche, viel Gerede vom Polizeistaat und der so oft beschworenen Meinungsdiktatur. Die Kommentarspalten füllten sich, die lukrativen Klicks explodierten, der Hass gärte in all den Sickergruben des bis heute weitgehend unregulierten Internets und entlud sich schließlich in wüsten Beleidigungen und Schmäh-Mails gegenüber der Schule. Der Schulleiter erhielt sogar offene Morddrohungen. Eine Woche sollte sein Martyrium dauern, ehe Journalisten auf die Idee kamen, der Geschichte tatsächlich einmal hinterher zu recherchieren. Und was sie herausfanden, war geradezu erstaunlich: Es waren Screenshots von acht Postings der Schülerin aufgetaucht, alle kurz vor justiziabel rassistisch betextet und mit rechtsextremer Symbolik aufgeladen. „In dem Hinweis, den der Schulleiter erhalten hatte, ging es nie um Schlümpfe. Sondern um tief rechte Symbolik“, kommentierte „Welt Online“ im Enthüllungsbericht. Exklusiv – und hinter der Bezahlschranke. Wer mehr über die realen Hintergründe des Vorfalls erfahren wollte, wurde höflich gebeten, jetzt ein Jahresabo abzuschließen (59,99 Euro im ersten Jahr, danach 155,88 Euro).
Dieser Kniff ist schon bemerkenswert, wenn bedenkt, dass „Bild“ anfangs den Stein bewusst verkürzt und überspitzt ins Rollen brachte, ehe einige Tage später die Kollegen der Schwesterpublikation die Fakten geradestellten. Eine erstaunlich kooperative Teamarbeit, die im Hause Springer die Kasse im besten Fall doppelt klingeln lässt.
Wie umgehen mit Paywalls?
Wir sehen, Paywalls sind nicht nur einfache Informationsschranken, sondern auch gefährliche Instrumente der Lesersteuerung. In dieser Form helfen sie dabei, eigene Wahrheitswelten zu kreieren und die Blasen künstlich erschaffener Realitäten vom einzigen Korrekturmittel fernzuhalten, das sie zu zerplatzen vermag: der Transparenz. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass beispielsweise der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk zusehends einem Trommelfeuer der Kritik – inhaltlicher Kritik – ausgesetzt ist. Gerade der rechtskonservative politisch-mediale Raum wirft ihm unaufhörlich tendenziöse Berichterstattung vor, ein offensichtlicher „links-grüner“ Einschlag wird bemängelt, Biographien von Moderatoren werden genauestens durchleuchtet, Bloopers bis zur Unkenntlichkeit aufgeblasen und jeder Gotcha!-Moment genüsslich ausgekostet: „Und dann auch noch von unseren Zwangsgebühren!“ Je stärker sich der ÖRR zur letzten Bastion freier, ungefärbter Information entwickelt (Flankenschutz erhält er nur noch von offenen Nachrichtentickern der Agenturen), desto stärker werden die Versuche seiner Delegitimierung, desto lauter die Rufe nach seiner Abschaffung. Der freie Zugang zu Informationen, bereitgestellt aus einem breitgefächerten Kollektiv mit unterschiedlichen Perspektiven, ist der größte Feind der Desinformation.
Natürlich habe ich nichts gegen bezahlten Journalismus. Die harte und vor allem wichtige Arbeit muss ordentlich entlohnt werden. Und seit die Online-Werbeflächen ins Unermessliche wuchsen, was dazu führte, dass von Jahr zu Jahr die Klickvergütung immer weiter sank, sieht wohl auch jeder ein, dass das Modell der reinen Vermarktung durch Werbung nicht länger tragfähig ist. Auch die Idee mit Micropayments ist gefloppt. Und eine Lösung wird nicht einfach zu finden sein.
Doch ebenso halte ich nichts davon, dass sich jedes Medium als isolierten Leuchtturm begreift. Die Verlage hatten Jahrzehnte, um sich zur Verwertungsgesellschaft zusammenzuschließen. Die Idee einer Kulturflatrate war früh da, vielleicht hätte sie auch für den Journalismus funktioniert: Betrag X für den Zugriff auf X Medien, abgerechnet wird nach Klicks oder Verweildauer – oder was weiß ich. Stattdessen zahlen die Bürger heute 20 Euro Rundfunkbeitrag + X. Und X ist in diesem Land meist so irrwitzig hoch („Washington Post“ = 60 Euro/Jahr, „New York Times“ = 90 Euro/Jahr, „Der Spiegel“ = 260 Euro/Jahr), dass sich die Leute entscheiden müssen, welcher einzigen zusätzlichen Newsquelle sie denn fortan vertrauen möchten, da für mehr das Geld nicht reicht. Die Folgen sind unweigerlich Medienverzicht und/oder eine ungesunde Medienkonzentration bei jedem einzelnen, unter welcher der Meinungspluralismus leidet.
Die Wahrheit kostet viel Geld. Fake News sind hingegen heute kostenlos an jeder Ecke zu haben. Und die dramatischen, mitunter auch demokratiegefährdenden Folgen sind bereits heute klar und deutlich in der Gesellschaft abzulesen.
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