Das Internet-Volk der Barbaren oder: Was Beckedahl-Hasser jetzt tun sollten

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Ich hatte die Nachricht gelesen, dann ging die Website online und ich notierte die Uhrzeit: 11.21 Uhr. Es würden vier bis fünf Sekunden bis zur Twitter-Lawine vergehen, rund eine bis zwei Stunden bis zur ersten Agenturmeldung, bis schließlich am Nachmittag die ersten Blog-Posts auftauchen würden – weniger als sonst, denn schließlich befand sich zu der Zeit der bundesrepublikanische Blog-Korpus in Berlin, nippte an Club Mate-Flaschen und lauschte gespannt in die Dunkelheit. In Zeiten kollektiver Hysterie, die schon per Definition eine gewissen Orientierungslosigkeit beinhaltet, ist vorsorgliche Sympathie das beste Rezept: Mein Gott, was wurde die Geburtsstunde der „Digitalen Gesellschaft“ gefeiert!

Es vergingen keine 48 Stunden, bis alles im Arsch war. Auch das ist Bestandteil des immerwährenden Rhythmus des deutschen Internets. Den Anfang machten wie stets die „Etablierten“, die amüsiert abwartend aus der Ferne berichteten, wie sich die „Community“ das nächste Grab aushob: „Jetzt guck mal einer schau!“, lautete der im gewohnt mondänen Ton vorgetragene Analysereport. „Ein neues Spielzeug für die Alphablogger und Twitterkönige („Spiegel Online“)!“ Dabei braucht es gar nicht die Hebelwirkung der Journalisten, um die ständige Selbstdemontage voranzutreiben. Das können wir – wir Blogger – nämlich viel besser erledigen.

Schon vor einiger Zeit hatte ich geschrieben, dass die einzigen drei Momente, die in der Lage sind, Bewegung in die deutsche Blogosphäre zu bringen, Neid, Furcht und Geld sind – und warum sollte es dieses Mal anders sein? Weil es um etwas Höheres geht? Weil es nun ums Ganze geht? Gar um die radikalste Zäsur im Miteinander der Offline- und Online-Welt? Ha. Haha.

Nein, nein – und nochmals nein!

Ich bin mit dem Seismografen durch das Netz gegangen und habe bislang drei große Richtungen des Einspruchs ausmachen können. Da gibt es diejenigen, die das kluge Argument des kolossalen Macht- und Marketing-Instruments ins Feld führen, das nun einem ohnehin zwielichtigen Mann der Internetszene („Wie verdient Beckedahl eigentlich sein Geld?“) zur Seite gestellt wurde. Dann gibt es diejenigen, die den noch klügeren Hinweis vortragen, dass die „Digitale Gesellschaft“ das artifizielle Produkt der „kleinen Berliner Clique um Markus Beckedahl“ („Spiegel Online“) ist, die sich tatsächlich anmaßt, für alle Leute zu sprechen, die im Netz leben und arbeiten und damit unsere Bedürfnisse deckungsgleich abzubilden. Und dann gibt es diejenigen, denen das eigentlich einerlei ist – weil es sich kompliziert anfühlt und das Mitgliederaufnahmeformular mehr als ein Feld für die E-Mail-Adresse aufweist und sie eigentlich denken: „Es ist mir sowas von scheißegal, Hauptsache ich kann jetzt irgendwann das neue Live-Album von Greenday per Bittorrent saugen und fertig.“

Sind diese Einwände verwerflich? Ich denke nicht (denn der dritte Grund ist mit mangelnder Weitsichtigkeit und auf diese Weise kurzum mit dem deutschen Bildungsnotstand zu erklären). Aber ich bin auch nicht hier, um auch noch meinen Senf dazuzugeben, sondern um weiter in der Wunde des Phänomens zu bohren.

Warum ist er so schwer zu finden, dieser gemeinsame Nenner? Es funktioniert doch auch woanders – da draußen. Wenn ein Unternehmen oder eine Partei die Marschrichtung vorgibt, dann finden wir das gut oder schlecht. Letzten Endes ist unsere Meinung aber marginal, denn wir haben es mit einem Hierarchiegefälle zu tun, das wir nie werden beeinflussen können. Wir versammeln uns auf Demos oder Sympathiebekundungen, ein jeder steht fest vereint mit seinem Nachbar, denn wir alle sind Opfer oder Jünger – und wir kennen unsere Rollen.

Gefangen im wimmelnden Egomanen-Cluster

Im Internet aber, da ist das anders. In den Neunzigern versuchten HTML-Webdesigner kleine und mittlere Unternehmen ins Netz zu locken. Erinnert ihr euch noch an die Claims? „Mit einer eigenen Homepage sind Sie genauso präsent wie ein multimilliardenschwerer Konzern!“ – so wurde seinerzeit geworben. Jede Website war gleich gut, jede begann mit „http“ und endete auf „.de“. Der EDV-Betrieb („Die Spezialisten für DFÜ“) konnte und kann wie IBM oder Apple eine Seite ins Netz stellen und war beziehungsweise ist da – auf Augenhöhe. Was für ein Privileg! Was für eine Freiheit!

Dieser Gedanke hat sich bis heute gehalten. Das Problem ist jedoch, dass nicht jeder mit dieser Augenhöhe und dieser Freiheit umgehen kann. Zuweilen hat man das Gefühl, dass so mancher nicht nur sein wertvolles Recht, sondern eher eine regelrechte Pflicht in sich entdeckt, um provisorische Vetos zu verteilen. Die wachsende soziokulturelle Komponente des neuen Internets hat dazu geführt, dass wir in einem wimmelnden Egomanen-Cluster ohne Kompromisse stecken: Hier sind wir Bühne, Schauspieler und Publikum zugleich. Und keiner ist bereit, diese Freiheit aufzugeben. Man protestiert, weil man es kann. Und weil man auch keine Obligation verspürt, Alternativen zu entwickeln. Ich kann ja einfach in die Küche gehen und mir ein Bier holen, wenn mich das Internet und die anderen mal wieder nerven.

Wer gegen die „Digitale Gesellschaft“ lärmt, kann dies mit gutem Recht tun. Ehrlich gesagt, gehen mir die hauptstädtischen Arroganzkapriolen in puncto ungefragter Kollektivvereinnahmung ja auch auf den Sack. Aber wer sich empört, sollte weder die Existenzberechtigung noch die Relevanz der Lobbygruppe in Zweifel ziehen – niemals. Denn wer dies tut, zieht Demokratie in Zweifel.

Plädoyer gegen den politischen Neanderthalismus

Werdet wach und versteht, dass hier ein System gewachsen ist, das Steuerung von innen dringend benötigt. Der Verein ist eine Stimme, vielleicht nicht meine, vielleicht nicht deine. Aber es ist eine. Und dann sollte man verstehen, dass es niemals eine Lösung für 50 Millionen Onliner geben wird.

Wer also ernsthaft Beckedahl und seine Kollegen in den Brunnen werfen will, um die ganze Entwicklung des Internet-Lobbyismus zu stoppen, kann gleich hinterherspringen. Es ist so, als würde man die Abschaffung der Opposition eines gestürzten Diktators fordern, weil die jetzt den Hut auf hat. So können sich nie Parteien bilden, so kann es niemals zu einer gescheiten Machtrepräsentation unterschiedlicher Gruppen kommen.

Euch gefällt nicht, was Berlin da macht? Dann eröffnet euren eigenen Laden, ein Leitfaden für die Gründung eines Vereins ist nur einen Klick im Netz entfernt. Versteht euch als Netzbürger mit Rechten und Pflichten. Macht aus dem Internet ein Mehrparteiengebilde! Aber bitte hört auf mit dem Pauschalgemotze – wir haben das Jahr 2011. Und das Netz ist noch immer in einer Staatsform gefangen, die noch die alten Säbelzahntiger kannten. Komisch, oder?

Und übrigens – das noch am Rande: Club Mate schmeckt wie mit heißem Wasser aufgegossenes Pferdestroh.

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Bild: Flickr – Fotograf: gruban

6 Kommentar

  1. Großartiger Artikel. Vielen Dank! Es besteht kein Anlass zum Optimismus aber ebenso wenig zum Pessimismus. Dafür ist es -immer noch- zu früh.

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