Social Targeting auf Facebook: „Bald werden die Kunden für das Marketing selbst bezahlen“

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Die Evolution des Online-Marketings verlief bisher in recht überschaubaren Schritten. Den Anfang machte die zufällig eingeblendete Werbung, hinzu kamen kontextbasierte Formate, die schließlich vom intelligenten Targeting abgelöst wurden. Bei allen Versuchen lautete die Devise stets: Streuverlust minimieren, Relevanz erhöhen – doch bis heute scheint das Ziel nicht vollends erreicht. Wir analysieren das Klickverhalten der Nutzer und erhoffen uns dadurch, mehr über sie und ihre Persönlichkeiten zu erfahren. Über tatsächliche Vorlieben und Abneigungen sagt das erst einmal aber wenig aus.

Die neue Form des Social Media Marketings will die Orakeltätigkeit hinter sich lassen und sich direkt an den konkreten Daten der Nutzer bedienen. Denn auf Plattformen wie Facebook geben diese über fast alles bereitwillig Auskunft. Gespeichert werden im blauen Netzwerk derzeit unter anderem: der Name, das Geburtsdatum, der Beziehungsstatus und die sexuelle Orientierung, der aktuelle Wohnort, der Geburtsort, die Art der Ausbildung und der Name der (Hoch-)Schule. Vermerkt sind ebenso der Arbeitgeber, die Namen der Familienangehörigen und Freunde. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs: Wo hat sich der Nutzer zuletzt eingecheckt? Welche Seiten hat er „geliked“, welchen Brands folgt er und für welche Veranstaltungen hat er sich angemeldet? Facebook kennt seine E-Mail-Adresse und in vielen Fällen noch seine Handy-Nummer. Die IP-Adressen und bei mobilen Nutzern auch die GPS-Koordinaten und damit der exakte Aufenthaltsort werden ebenfalls notiert.

Ein unermesslicher Datenschatz

Keine andere weltliche Instanz weiß mehr über die Konsumenten dieser Welt als Facebook. Mit über 750 Millionen Personenprofilen stellt das Netzwerk das mit Abstand vollständigste Menschenkompendium dar: 15 Millionen Freundschaften werden pro Tag auf der Plattform neu geschlossen, 30 Milliarden Inhalte (Fotos, Videos, Texte) werden pro Monat miteinander geteilt. Facebook ist die größte Fotoplattform der Welt, alle 24 Stunden kommen hundert Terabyte neuer Daten hinzu.

Werber haben mit Mark Zuckerbergs megalomanischen Universum nur ein Problem: Wie kommt man an diese Daten heran? Auf Facebook gilt ein Privacy-Diktat, das (mal stärker, mal schwächer) auch eingehalten wird. Nutzerinformationen können nur dann weitergegeben werden, wenn sich die betreffenden Mitglieder damit ausdrücklich einverstanden erklären. Das geschieht bereits beinahe jeden Tag, etwa, wenn eine Facebook-App oder eine Smartphone-Anwendung installiert wird. Dies passiert jedoch nicht im breiten Rahmen, sondern eher in bilateralen Abkommen mit Tausenden von verschiedenen Anbietern. Bislang gab es kaum Ambitionen, hier geregelte Prozesse zu etablieren – doch das hat sich geändert.

Ökonomische Rasterfahndung

MicroStrategy ist Spezialist für Business Intelligence; und die geheimdienstliche Färbung des Titels ist ganz bewusst gewählt. Das Unternehmen befindet sich in Vienna, Virgina – nur knapp zehn Kilometer Luftlinie vom CIA-Hauptquartier entfernt. In den Neunzigern machte es in der Geschäftswelt auf sich aufmerksam, weil es Händlern bei der Kassenbon-Auswertung mit eigenen Algorithmen unter die Arme griff. In Deutschland fand MicroStrategy beispielweise heraus, dass Käufer von Nutella besonders markenaffin sind. Die Preissenkung des Glases Schokofettcreme hatte binnen weniger Tage zur Folge, dass bei den Kunden immer mehr Markenartikel im Einkaufswagen landeten – ein einziger Initialreiz genügte offenbar. Diese Form der ökonomischen Rasterfahndung fand schnell ihre Anhänger. Heute stehen die Unternehmen bei MicroStrategy Schlange: ob eBay, Groupon, Metro, Starbucks, Telefónica, Netflix, Electronic Arts – das Who-is-Who der internationalen Retailer findet sich in der Kundenliste des Unternehmens wieder.

MicroStrategy-CEO Michael Saylor hat früh die Zeichen der Zeit erkannt und sich darum bemüht, das Geschäft mit dem Data-Mining auf den Handel im Internet auszudehnen: 2010 machte sein Unternehmen eine halbe Milliarde Dollar Umsatz, heute arbeiten über 2.500 Mitarbeiter Saylor zu. Nun geht es darum, den nächsten Schritt zu wagen. Knapp ein Jahr haben rund fünf Dutzend Entwickler die Facebook-API bearbeitet, um aus der Schnittstelle die Daten in Serie zu ziehen. Mitte Juli stellte MicroStrategy in einer breit angelegten Launch-Kampagne in Monte Carlo das Ergebnis vor: Gateway for Facebook.

„Facebook ist ein Marketing-Phänomen“

„Google durchsucht unseren Abfall und meint zu wissen, was in uns vorgeht“, sagte Saylor in seiner Keynote. „Die finden hinter dem Haus eine Bananenschale und denken, dass ich die Banane gegessen habe. Doch wissen sie es wirklich? Nein. Jeder könnte die Schale hinterlassen haben!“ Laut Saylor ist das klassische Targeting-Geschäft am Ende, ein Relikt aus den grauen Urzeiten des Internets. Wenn es nach MicroStrategy geht, wird Social Media Marketing (oder „F-Commerce“, wie es immer häufiger genannt wird) schon in Kürze einen neuen Boom unter Werbern und Händlern auslösen: „Facebook ist ein Marketing-Phänomen, keine technische Meisterleistung“, so Saylor.

MicroStrategy-CEO Michael SaylorMicroStrategy will an die Daten der 750 Millionen Facebook-Mitglieder und den eigenen Kunden gegen Entgelt Zugriff darauf gewähren. Gateway wurde in Kooperation mit Facebook entwickelt und wird als Bindeglied zwischen Handel und dem Netzwerk verstanden – bidirektional ausgerichtet und Cloud-basiert. „Indem wir Unternehmen helfen, Zugriff auf die wertvollen und ständig aktualisierten Facebook-Daten zu bekommen, geben wir ihnen gleichzeitig Instrumente an die Hand, sich effektiver mit ihren Kunden zu beschäftigen und damit die Markentreue durch eine adäquate, personalisierte Kommunikation zu erhöhen“, erklärte Saylor. Das Rezept, um die Nutzer zur Freigabe ihrer Daten zu bewegen, liefert er gleich mit: „Friendly Apps“. Unternehmen sollen in ihrer Kommunikation auf mobile, soziale und personalisierte Anwendungen setzen: So könne ein Kino-Betreiber mittels Gateway beispielsweise eine App anbieten, über die ein Kunde zehn seiner Facebook-Freunde zum gemeinsamen Filmabend einladen könne; er selbst bekäme dann sein Ticket geschenkt.

Bye, bye Cookie-Tracking?

Im gemeinsamen Gespräch vertiefte SVP & Chief Evangelist Social Commerce von MicroStrategy, Karl-Heinz Land, diese Idee: „Marketing muss eine Qualität erreichen, die vom Kunden als Service wahrgenommen wird.“ Schon in ein paar Jahren könne das Verhältnis kippen: „Bald werden Kunden für das Marketing zahlen.“ Wenn eine Rockband eine App aus Werbezwecken veröffentlicht, die neben aktuellen News, Sound-Snippets, Videos und Bestellmöglichkeiten auch einen Fan-Chat und einen Tourplan beinhaltet, der sich automatisch mit dem Kalender des Smartphones synchronisiert, wäre die Zahlungsbereitschaft bei einigen Kunden schon heute gegeben. Der Trick bestehe darin, Marketing gemeinsam mit Mehrwerten zu bieten.

Haben Unternehmen erst einmal die Facebook-Tür zu ihren Kunden aufgestoßen, stünde selbst dem filigransten Marketing nichts mehr im Wege. Kampagnen sind auf beliebige Dimensionen skalierbar – bis zum einzelnen Nutzer: Männlich, Single, 28 Jahre alt, wohnhaft in Deutschland, genauer gesagt in Mannheim, besitzt einen Hochschulabschluss als Diplom-Elektroingenieur, verfügt über ein iPhone 3GS, interessiert sich für Segelboote und Regatten, will in der ersten Septemberwoche verreisen – die Zielgruppe kann bei Bedarf auf einen bestimmten Zielkunden zurechtgeschrumpft werden.

Martin Hubert von der Axel Springer-Tochter eprofessional zeigte sich angesichts dieser neuen Möglichkeiten offen interessiert. Das bisherige Instrumentarium der Branche, nämlich das Cookie-basierte Tracking-Marketing, sei nicht das Optimum. „Eine klare Opt-In-Lösung für Konsumenten ist allemal zu begrüßen“, so Hubert. Auch würde dieses Modell auf einen Schlag für klare Rechtssicherheit sorgen – die Kunden geben immerhin ausdrücklich grünes Licht für personalisierte Angebote. Zumindest solange, bis sie das Einverständnis zurückziehen.

Datenschutz kommt an zweiter Stelle – nach dem Mehrwert

Um der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen, hat MicroStrategy schon einmal vorgelegt und eine App mit dem Namen „Alert“ für das iPhone veröffentlicht. Nutzer bekommen hier für den Preis ihrer Datenfreigabe einen Überblick über sämtliche ihrer abonnierten Facebook-Seiten. Unternehmen können diese Seiten auf Wunsch anpassen und zudem Features hinzufügen, die über den bisherigen Funktionsumfang von Facebook hinausgehen – etwa Shops, Spiele oder PDF-Dateien einbinden: eine „virtuelle Mall“, heißt es. Varianten der Alert-Anwendungen sollen schon in Kürze für das mobile Google-Betriebssystem Android folgen. Die ersten Kunden seien schon an Bord, wurde den Journalisten versichert. Eine der Programmteilnehmerinnen ist Lady Gaga – mit einer Facebook-Fanbase von mehr als vierzig Millionen Nutzern.

Angesprochen auf die Sorgen der Datenschützer räumte sich Michael Saylor nicht viel Bedenkzeit ein. Die Lawine sei bereits in Bewegung und lasse sich nicht mehr stoppen: „Am Ende des Tages sieht es doch so aus, dass Apple iPhones und iPads für Milliarden von Dollar verkauft – und die wollen auch sozial genutzt werden.“

Während viele CIOs angesichts der Aufgaben in den Bereichen Datensicherheit und Privatsphäre ein Unbehagen empfinden, hätten die Marketing-Abteilungen derselben Unternehmen bereits den F-Commerce in Angriff genommen: „Wenn Sie auf einen Kritiker treffen, fragen Sie doch einmal seine Tochter, was sie will: ‚Papa, ich will ein iPhone.‘ – so sieht es aus!“

Tatsache ist, dass Social Media-Marketing die Bezeichnung des „Trends“ bereits weit hinter sich gelassen hat. Es ist davon auszugehen, dass auch Google bald ähnliche Wege einschlagen wird. Das neue soziale Netzwerk Google Plus bietet wie Facebook detaillierte Personenprofile. Zudem gilt auf der Plattform eine strikte Klarnamen-Policy, so dass der demografischen Identität des Nutzers auch eine adressierbare Persönlichkeit zur Seite gestellt wird. Spannend wird wir Frage, wie Google die +-Mitglieder zum freiwilligen Werbe-Opt-In bewegen will. Die Suchmaschine hätte Rahmen einer mobilen Strategien einen entscheidenden Vorteil: Laut Gartner werden im kommenden Jahr weltweit rund 630 Millionen Smartphones über die Ladentische gehen. Auf der Hälfte von ihnen wird Googles mobiles Betriebssystem Android laufen.

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Crossposting: Dieser Artikel erschien auch auf adzine.de.
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8 Kommentar

  1. Wie sagt Michael Saylor: “Am Ende des Tages sieht es doch so aus, dass Apple iPhones und iPads für Milliarden von Dollar verkauft – und die wollen auch sozial genutzt werden.” Der Begriff ’sozial‘ bekommt hier eine unschöne zweideutige Bedeutung.

    Einerseits will der Nutzer eines entsprechenden Gerätes sich mit anderen Menschen und ihren Äußerungen vernetzen, also in einem seinen Bedürfnissen entsprechenden Netzwerk tätig werden und dies nutzen. ‚Sozial‘ hat hier eher die Bedeutung eines gemeinschaftlichen Nutzens.

    Auf der anderen Seite wollen Firmen wie solche, die in Deinem Beitrag beschriebene, Netzwerke von Menschen und ihre in den entsprechenden Portalen eingegebenen Daten nutzen, um nicht nur einen Köder zu legen, sondern gleich den großen Fisch zu angeln. Und der Köder ist verführerisch-gemein: Apps, die einen Nutzen versprechen, der allerdings mit einem schmerzhaften Biss belohnt wird – der Preisgabe des vermeintlich Geschützten. Denn Hand auf’s Herz und stramm gelogen: Wer liest sich schon die einzelnen Datenschutz- und Nutzungsbestimmungen einer App durch, wenn die scheinbar wertvolle Nutzung nur einen Klick bzw. Fingertipp entfernt liegt! ‚Sozial‘ hat hier die Bedeutung eines Stasi-artigen Ausspähens von Gemeinschaften; andere würden es als ‚asozial‘ bezeichnen – aber da sind wir wohl in moralischen Kategorien, die derartigen Firmen sowieso nichts sagen.

  2. Sagen wir es so: Ich hatte „Alert“ aus Testzwecken installiert. Dann 20 Minuten gebraucht, um bei Facebook die Seite mit den App-Erlaubnissen zu finden und die Anwendung rauszuschmeißen. Die fangen schon ihre Fische. Vielleicht profitieren wirklich beide Seiten davon, vielleicht aber auch nur eine.

  3. Das sollte natürlich eine Warnung für alle sein, jedoch glaube ich, dass die Meisten das nicht interessiert, bzw. dass sie sich überhaupt damit auseinandersetzen.

    Mir geht das alles eh schon auf die Nerven und jetzt kommen die und versprechen mir einen Mehrwert, wenn ich denn bereit bin, meine Daten mit mir völlig fremden zu teilen?

    Ich soll mich nackt ausziehen, aber die Unternehmen bleiben angezogen, belügen uns nach Strich und Faden und handeln meist kriminell und das soll hier nun belohnt werden?

    NFW.

  4. Bei allem Gegenwind durch Privacy-Bedenken wünsche ich mir von Werbung, dass sie mich über Produkte und Dienstleistungen informiert, welche meinen Interessen entsprechen. Ich stehe daher solchen Entwicklungen durchaus positiv gegenüber und erkenne den Mehrwert solcher Aktionen für mich an.

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