Wenn Twitter geht, verschwindet auch die Echtzeit-Gesellschaft

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Ich bin der Meinung, dass es in der Geschichte des Internets zwar viele Innovationssprünge geben hat – aber nur ganz wenige davon die digitale Evolution tatsächlich und nachhaltig vorangetrieben haben. Eine dieser bedeuteten Innovationen ist Twitter. Die Idee zum Kurznachrichtendienst war so einfach wie genial: 140 Zeichen – das muss reichen. Doch anders als jeder andere Dienst des (Social) Web hat Twitter damit eine völlig neue Dimension in das globale Spiel eingeführt; nämlich Transparenz.

Twitter war vom ersten Tag an eine öffentliche Plattform, die sich eher als sichtbare Mikroblogosphäre denn als abgekapseltes Social Network verstand. Das erlaubte uns schon nach wenigen Jahren, die Welt in ihrer Ganzheit zu erfassen. Die Entwicklung führte zur Verschlagwortung der globalen Gefühlswelt. Heute werden weltweit 65 Millionen Tweets pro Tag publiziert: Keine Umfrage, keine Statistik und keine Analyse leistet soviel für die Transparenz auf der Erde, wie Twitter es tut (und das zudem kostenlos und in Echtzeit). Wir wissen, wo es brennt, wo man protestiert, wo man liebt, wo man wählt und wo man sich unterhält. Diese Verfügbarkeit der Information hat Fakten geschaffen und zwar von der Zensursula-Debatte bis zum Tahir-Platz in Kairo. Wenn Kameras das Land verlassen mussten, waren dort immer noch die Twitterer, welche die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Brennpunkte der Welt lenkten.

Eine unglaubliche Entwicklung: Denn Twitter ist das erste Medium, das den Stimmlosen die Macht gab, die Freiheit der Presse auszuüben und ihnen gleichzeitig die kritische Reichweite schenkte.

Ozeane voller Kommunikationsinseln

Das Problem, das langsam heranreift, besteht jedoch darin, dass der Dienst gerade in die Defensive gedrängt wird. Schon in wenigen Monaten dürfte es im Social Web nur noch einen Kampf geben und der lautet „Facebook vs. Google Plus„. Twitter könnte das erste Netzwerk sein, das bei diesem Kräftemessen unter die Räder kommt. Schon jetzt werden Stimmen laut, dass der Kurznachrichtendienst angesichts der beiden Netzwerke eine redundante Rolle spiele. Viele Nutzer (inklusive mir) haben im aufoktroyierten Switch zu Twitter 2.0 (das einer Usability-Katastrophe gleichkommt) einen gesunden Anlass gesehen, die Tweet-Frequenz zu senken.

Nun könnte man sagen: „Was soll’s? Dann übernimmt eben Facebook oder Google Plus die Aufgabe, die bisher Twitter übernommen hat.“ Doch so einfach ist es nicht. Anders als Twitter, verhalten sich die beiden Social Networks wie Ozeane voller Kommunikationsinseln. Diese Inselgruppen sind dem Umstand der Privacy-Politik geschuldet: Die Reichweite der meisten Facebook-Nutzer ist auf 130 Leser beschränkt. Nur wenige Mitglieder der beiden Netzwerke nehmen die Möglichkeit in Anspruch, ihre Informationen öffentlich zu teilen. Sowohl Facebook als auch Google Plus sind in ihren jetzigen Formen nur selten nach außen hin transparent, die Vorhänge der Privatsphäre verhüllen viele Diskurse im Dunkeln.

Wenn Twitter untergeht, verschwindet also auch der Echtzeitblick auf die globale Gesellschaft. Es gibt sie noch, die Gefühle, Sentiments, die Proteste und die Problemaufzeiger – doch sie sind dann einfach nicht länger sichtbar. Es sei denn, ich „befreunde“ mich mit rund 200 Millionen Nutzern weltweit und dann ist das daraus gewonnene Wissen auch nur mir verfügbar.

Es besteht noch eine weitere Schwierigkeit im Fall des Twitter-Abgangs: Das Klarnamen-Gebot (wie es beispielsweise Google rigoros durchsetzt), verhindert den anonymen Aktivismus. Und wer will schon an einer Demonstration in Nordafrika oder China teilnehmen, wenn er gut sichtbar seinen Namen am Revers tragen muss? Sicher kann man einen falschen Namen angeben, doch die Auflage hinterlässt bei jedem Gang auf die Straße einen bitteren Beigeschmack.

Ein unverblümter Blick auf die Welt wäre nach jetzigem Kenntnisstand also ohne Twitter nur schwer möglich. Die einzigen Instanzen, die eine Möglichkeit hätten, die Kommunikationsinseln der Social Netzworks zu vereinen und Einblick in aktuell laufende Diskurse zu ermöglichen, sind die Betreiber selbst. Und Facebook und Google werden dies – wenn überhaupt – nur unter ökonomischen Gesichtspunkten erlauben. Etwa, damit Unternehmen intelligente Tweaks am Targeting vornehmen können. Nicht, damit beispielsweise Kommunikationskanäle aus Krisengebieten geöffnet werden.

Das sind die Gedanken, die mich in diesen Tagen beschäftigen. Wenn man darüber nachdenkt, hat dieser kleine Dienst Twitter der Welt tasächlich die Augen geöffnet. Nun besteht allmählich die Gefahr, dass wir diese Errungenschaft langsam wieder abschaffen. Dies ist kein Post-Privacy-Pamphlet. Nur eine Überlegung, die noch nicht zu Ende gedacht ist…

10 Kommentar

  1. Hallo André,

    sehr schöner Artikel! Ich stimme dir absolut zu. Am Anfang war ich ein großer Fan von Google+. Meine Tweetfrequenz ist kurz nach dem Start des Netzwerks ins Bodenlose gesunken. Und klar… Google+ hat Vorteile. Es ist benutzerfreundlicher, die 140 Zeichen Grenze hat mich schon ewig genervt und die Erweiterungsmöglichkeiten werden enorm sein.

    Doch spätestens mit der Klarnamenpolitik hat Google es wirklich versaut. Damit ist Google+ als politischer Kanal eigentlich gestorben. Schade, aber anscheinend nicht zu ändern. Bislang scheint Google ja nicht ernsthaft einzuknicken.

    Auch die Inselproblematik ist mir bei Google schon aufgefallen. Die momentane „Teilen“ Funktion führt dazu, dass man sich den Content anderer Leute zu eigen macht. Dadurch ist man viel weniger geneigt diesen anderen Leuten zu folgen(zumindest erscheint es mir so). Auch die fehlende Hashtagsuche und „trending topics“ sind ein Problem. Ich hoffe aber, dass Google zumindest diese Probleme eliminieren wird. Dann kann man zumindest mit einem gefälschten Klarnamen auch in Problemregionen noch Politik machen.

    Grüße
    Johannes

  2. Die Problematik besteht, zweifellos. Meine Twitter-Aktivität ist deutlich zurückgegangen, seit ich G+ nutze. – Aber: ich empfinde das Informationserlebnis auf G+ als Entschleunigung und Intensivierung zugleich. Entschleunigung, weil ich das Bedürfnis habe, einem mich wirklich interessierenden Thema durch Teilnahme an der entstehenden Debatte zuzuwenden (und alles andere dafür auszublenden), und aus dem gleichen Grund empfinde ich es auch als Intensivierung. Die Qualität der Informationen und Debatten ist so hoch, dass es sich für mich so anfühlt, als folge ich tatsächlich dem, was mich interessiert, anstatt mich beliebig mit Kurznachrichten berieseln zu lassen, wie Twitter es bietet.

    Das führt natürlich in der Folge dazu, dass meine Reichweite auf Twitter schwindet. Aber auch, dass andere das Gefühl bekommen, ins Nirwana zu twittern. In letzter Konsequenz käme das Echtzeitnetz abhanden. – Allerdings ließe es sich jederzeit reaktivieren, wie kürzlich die Ereignisse in Norwegen gezeigt haben. Da funktioniert Twitter wie ein Ticker und alle verlassen die anderen Plattformen, um eben da nachzusehen, was los ist.

    Facebook sehe ich in diesem Spiel kaum noch. Der Informationswert der dortigen Nachrichten ist (zumindest in meinem Netzwerk) ungleich geringer als auf G+. Und mit Echtzeit hatte FB noch nie etwas zu tun, da ist G+ deutlich mehr twitterlike.

  3. Allein die Überschrift stimmt weder für die Gesellschaft insgesamt noch für das Leben in den digitalen, d.h. digital vermittelten Sphären. Denn Twitter ist beleibe nicht das einzige Echtzeit-Kommunikationsmedium. Derer gibt es unzählige. Das gesamte Internet ist ja quasi ein einziges Echtzeitmedium Und sollte Twitter irgendwann mal ausfallen, dürfte in diesem riesigen Echtzeit-Internet schnell auf eine andere Echtzeit-Plattform ausgewichen werden.
    Auch bleibt die Gesellschaft insgesamt ohne Twitter genauso echt und echtzeitig wie ohne.
    Überschrift wie Text zeugen wieder mal u.a. von einer völligen Überschätzung der Medien – wenn man gar gleich das Ende der Gesellschaft heraufbeschwört, wenn nur irgend ein Twitter-Medium ausfällt.

  4. Meine Zustimmung. G+ mit Pflichtmailaccount, Klarnamen..das schreckt die Leute ab. Auch mich hatte google bei g+ letzte Woche geschmissen weil ich keinen Klarnamen trug. Man bot mir an eine Kopie meines Personalausweises zu mailen! Ich mailte ihnen ein Bild von einer Kloschüssel.
    Twitter..ja die 140zeichen sind gut und genug. kein Larifari, klare Ansage und Platz einen Link rein zu packen. Mehr braucht es nicht. Nichts ist so schnell aktuell wie Twitter.
    Wenn twitter geht..dann wird es duster und ich hoffe wieder auf bloggs weltweit.

  5. @rollinger

    Ich musste jetzt gerade beim Frühstück aufpassen, dass ich mich nicht vor Lachen verschlucke. Wurde denn wenigstens nach deiner Bildantwort der Account wieder aktiviert?:=)

    Ernsthaft, ich finde das ist die einzig richtige Antwort, die man auf die Frage nach der Kopie seines Personalausweises senden kann. Aber vielleicht will Google in Zukunft auch noch eine schöne Datensammlung mit den Perso ID-Nummern deutscher Bürger anlegen. Trau ich diesem Verein definitiv zu!

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