Irgendwie entbehrte es nicht drolliger Ironie, als Angela Merkel den Saal der CeBIT im ruckelnden Flash-Livestream betrat, während zeitgleich Pharrell Williams die akustische Hintergrundkulisse besorgte: „It might seem crazy what I’m about to say…“ Und als der Blockbuster-Sprecher der Messe dann auch noch volltönig „disruptive technology“ mit „disrupted technology“ verwechselte – was so ziemlich genau dem Gegenteil des ersten entspricht – hätte allen Zuschauen klar sein müssen, was hier auf sie wartet.
Der Schwerpunkt der diesjährigen CeBIT kreist um den Begriff „d!conomy“, einem der vielen Neologismen, die in Hannover Jahr für Jahr erfunden werden. Auch die Bezeichnung der sogenannten „Industrie 4.0“ wurde einst auf dem Messegelände geboren und sickerte von hier mit Hilfe der Medien in den aktiven Wortschatz der Politik – oft in Begleitung von Adjektiven, wie „radikal“, „revolutionär“ oder „umwälzend“. Seit Jahrzehnten entdecken die Deutschen so in jedem Frühjahr die „Digitale Revolution“ aufs Neue, überrascht und erstaunt von ihren Möglichkeiten und ihrem tiefgreifenden gesellschaftlichen Effekt. Um den Messeplanern zumindest für die kommenden Jahre schon mal ein wenig Arbeit abzunehmen, hier ein paar Claims für ein und dasselbe Phänomen – das sollte bis 2020 reichen: „Cyberconomy“, „T3ch-enhanced Business“, „WWWirtschaft“ und „#MadeInGermany“.
Die Buzzword-Republik
Offenbar brauchen die Deutschen eine deskriptive Trend-Auseinandersetzung mit dem Thema. Ob es ihnen hilft, ist zweifelhaft. In anderen Ländern ist es jedenfalls so, dass das Internet, Facebook, Google, eBay, Amazon, Big Data, 3D-Druck, Smart-TVs, selbstfahrende Autos, IoT, Smartphones und Tablets, Drohnenlogistik, Wearables, Lösungen für Augmented Enhanced Reality und Mobile Payment und Smart-TVs erfunden wurden und dabei nur ein Begriff gebraucht wurde: „Digitization“ – ein Wort, das eher eine durchaus nachvollziehbare, konsequente Evolution als eine Revolution beschreibt.
Sei es so. Im Wesen eines jeden proklamierten Aufbruchs liegt es, dass derjenige, der sich mit Elan auf den Weg macht, auch weiß, wohin er eigentlich will. Folgerichtig werfen wir einen Blick zurück in das vergangene Jahr, das ganz im Zeichen der „Industrie 4.0“ stand. Die Wirtschaft applaudierte, die Politik appellierte. Im Fahrwasser der Euphorie, die weiter entwickelte Gesellschaften stirnrunzelnd zu Kenntnis nahmen, wurde die Plattform Industrie 4.0 gegründet, ein Konsortium deutscher Unternehmen, dessen Aufgabe es sein sollte, gemeinsamen Standards für die „vierte industrielle Revolution“ zu entwickeln.
„Im Wesentlichen haben wir nichts hinbekommen.“
Offenbar hielt die Aufbruchsstimmung nicht lange. Die jüngste Pressemitteilung der Plattform ist zugleich auch die viertletzte und stammt vom 14.04.2014. Vor wenigen Tagen räumte dann auch Reinhard Clemens, CEO von T-Systems, ein, Deutschland habe „die erste Halbzeit verloren“. „Im Wesentlichen haben wir nichts hinbekommen“, so Clemens. Auch ein guter Slogan. Somit ist das Projekt bereits auf Bundesebene im Sande verebbt, die Anstrengungen, einen EU-weiten Konsens zu erzielen, scheinen daher mehr als auss!chtslos 4.0. Die Reise, der Aufbruch, wurden abgesagt.
Während die Politik beharrlich den Status-quo verwaltet, ergeben sich Wirtschaftsverbände in ebenso kontinuierlichem wie folgelosem Buzzword-Bellen. Der deutsche Mittelstand, der den größten Teil der hiesigen Wirtschaft ausmacht, ist verwirrt und schaut wehmütig auf die Vergangenheit zurück, als das Fax-Gerät nur zehn Knöpfe und den On/Off-Button hatte. Die „Lasst mich doch mit eurem Scheiß in Ruhe!“-Mentalität der deutschen Mittelständler lässt sich sogar in Zahlen ausdrücken. Die KfW attestiert den KMUs erst kürzlich einen gravierenden Mangel an Innovationswillen. Die aktuellen Anstrengungen in diesem Bereich seien demnach sogar schwächer als in den stark von der Finanzkrise beeinflussten Jahren 2007 bis 2009.
Schattenboxend im Abseits
Ich bin kein Nostradamus, aber die Entwicklung könnte sich in wenigen Jahren als gefährlich erweisen, wenn amerikanische und asiatische Wellen aus Produkt-, Prozess- und Service-Innovationen über den deutschen Markt zusammenklatschen. Als rohstoffarmes Land, das eher passiv an der globalen Digitalisierung partizipiert, wird Deutschland zumindest schon in wenigen Jahren weder als Entwicklungs- noch als Produktionsstandort punkten können. Also, wenn wir uns tatsächlich in einem Zeitalter disruptiver Umbrüche und technologischer Revolutionen befinden, lassen es sich die Bosse hierzulande nicht anmerken.
Um mit Clemens‘ Worten zu sprechen, haben wir nicht nur die „erste Halbzeit verloren“, sondern sind bereits in der ersten Qualifikationsrunde schattenboxend ausgeschieden. Die USA, aber auch die Asiaten, sind uns nicht einen, sondern zwei, wenn nicht drei Schritte voraus. Denn nach den technologischen Innovationen (wo die Deutschen eigentlich gut sind) haben sie schon die dazu passenden Geschäftsmodelle entwickelt (wo wir nicht so gut sind) und Weichen für die politischen Rahmenbedingungen (wo wir richtig schlecht sind) gestellt. Kalifornien hat bereits 2012 (!) ein Gesetz für die Erlaubnis selbstfahrender Autos auf den Straßen erlassen. Für alle, die in Geschichte mit Defiziten zu kämpfen haben: Das war rund ein Jahr bevor Merkel das Internet als Neuland entdeckte und sich schnell aus der binären Kolonie zurückzog. Und drei Jahre bevor die deutsche Bundesregierung noch immer keine tragfähige Lösung für öffentliches WLAN vorlegen konnte.
Tradition3xit – oder so
Nein, von der Politik konnte sich die Wirtschaft bislang wahrlich keine große Hilfe erhoffen. Nach vollmundigen Erklärungen, Attesten der Dringlichkeit und der Äußerung anderer ePlatt!tüden hatten sich das Bundesbildungs- und Bundeswirtschaftsministerium gerade einmal durchgerungen, die Industrie 4.0 mit 200 Millionen Euro zu fördern. Zum Vergleich: Genauso viel kostete jüngst ein Lärmschutztunnel an der A1 in Köln, der nun 2.000 Anwohner ruhiger schlafen lässt. Und genau diesen Effekt hat auch die Zahlung der genannten Alibisumme bei der Bundesregierung: einen ruhigen Schlaf. Statt Visionen und konkrete Maßnahmenkataloge zu formulieren, ergeht sie sich in mitleidigen Durchhalteparolen und Selbstbeschwörungen – und scheut nicht einmal davor zurück, sie auch öffentlichen in fremdschämtauglichen Kampagnen („Deutschland kann das.“) von sich zu geben.
Wenn die digitale Umwälzung tatsächlich in einer Radikalität nie erlebter Ausmaße über uns kommt, muss doch die Reaktion adäquat sein. Und eigentlich hat die Bundesregierung dafür schon eine Lösung in der Schublade. 2009 initiierte sie die wohl größte staatlich sanktionierte Wertvernichtung eines Industrielandes. Käufersubventionen in Form der Abwrackprämie sollten einem Wirtschaftszweig wieder auf die Beine helfen, der seinen Großteil des Absatzes sowieso durch Exporte bestreitet. Heute wissen wir: Irgendetwas hat es gebracht, was genau, weiß wiederum niemand so genau. Vielleicht wird es Zeit, das erprobte Modell von der Straße in die Büros und Fabriken zu holen. Bevor wir die Barrikaden einer deutschen digitalen Revolution erklimmen können, müssen wir zunächst die fragilen Überreste der Wirtschaft 1.0 abwracken. Anreize schaffen, raus mit dem Alten, rein mit dem Neuen. Sicherlich ist ein Ankurbeln freundlicher als eine verspätete Reanimiation. Man muss nur wollen, dann geht das schon. Und ein Buzzword-tauglicher Name wird sich dafür schon finden lassen. „Tradition3xit“, oder so.