Das Zeichenlimit der meisten heutigen sozialen Netzwerke geht nicht auf ein in klugen Gründerhirnen erfundenes Alleinstellungsmerkmal zurück, war niemals ein pfiffiger USP. Twitter war 2006 mit einer künstlichen Begrenzung von 140 Zeichen pro Posting gestartet, weil man sich als mobilfunkbasierter Dienst schlichtweg am SMS-Zeichenlimit (160 Zeichen) orientierte: So konnten Nutzer zusätzlich zur Nachricht noch ihren Namen mitverschicken. Das ist das ganze Geheimnis, es gab keinen anderen Grund. Die vermeintlichen Vorteile inhaltlicher Prägnanz und pointierter Kürze wurden dem Dienst erst im Nachhinein zugeschrieben.
Denn es waren völlig andere Zeiten. Es war auch eine völlig andere Community, die da im Fokus stand: Als NYU-Student hatte Jack Dorsey eigentlich nur seine Kollegen bei dem Podcastinganbieter Odeo im Blick gehabt, es ging um junge Leute, um einfache Status-Nachrichten im eigentlichen Sinne des Wortes, um Botschaften aus der Echtzeit – one-to-many, monodirektionales Microblogging. Es ging nicht um News, es ging nicht um Politik, es ging nicht um Werbung, sondern kurze öffentliche Impulse aus dem Alltag.
Lange nicht über sich hinaus gewachsen
Wie wir alle wissen, wurde Twitter danach recht schnell erwachsen. Die SXSW-Konferenz 2007 machte die Plattform dem weltweiten Publikum der Unternehmenskommunikation bekannt und spätestens als ein weiteres Jahr darauf Barack Obama den ersten Social-Media-Wahlkampf der Welt startete, hatte sich Twitter zur kommunikativen Allzweckwaffe der Politik entwickelt. Das Zeichenlimit von 140 blieb jedoch eisern viel Jahre lang bestehen und wurde mit all der Zeit zum kuriosen Brand-Asset, das niemand hinterfragte.
Bis 2017.
Dorsey führte mehrere Gründe an, das Längen-Limit von Posts auf 280 Zeichen zu erhöhen. Es hatte zuvor einige Test gegeben. Das Ergebnis? Neun Prozent aller veröffentlichten Tweets durchbrachen die strenge Zeichengrenze und provozierten so Folge-Postings. Bei einem Limit von 280 Zeichen würden hingegen 99 Prozent aller Tweets ausreichend Platz bekommen und so wurde die Änderung durchgesetzt. Das war im November 2017, rund zehn Monate nachdem Donald J. Trump – Milliardär, Frauenverächter, leidenschaftlicher Rassist und strammer Rechtsextremist – zum Präsidenten der USA gewählt worden war. Nie war das Land gespaltener, nie gab es so verhärtete Fronten, so viele Lügen, unerhörte Propaganda, Scharfmacherei. Noch nie hatte die Wahrheit so unter Druck gestanden. Das strikte Zeichenlimit war innerhalb der gesellschaftlichen Kommunikation an sein Limit gestoßen.
Es stimmt, 280 verfügbare Zeichen – besser noch: 140 Zeichen! – zwingen den Urheber in seiner Aussage zur Konzentration, zur Klarheit und Prägnanz. Der Austausch ist schnell und übersichtlich, vor allem aber auch gerecht, da den Argumenten jedes Diskursteilnehmers derselbe Umfang eingeräumt wird. Doch es gibt eine Kehrseite der Münze, deren Glanz in den vergangenen, unglaublich anstrengenden Jahren immer deutlicher zutage trat: Ein strenges Zeichenlimit macht es schwierig, komplexe Ideen oder Nuancen effektiv zu vermitteln. Der Raum zur Reflexion fehlt. Die Begrenzung – dieser „snackable content“ – lädt geradezu zu Missverständnissen ein und fördert die oberflächliche Diskussion, die Wahl einfacher Lösung. Darüber hinaus fragmentieren Threads als vorsintflutlicher Notbehelf die Kommunikation. Und wenn Politik zu einem Schlagwort kondensiert, entsteht nichts anderes als Populismus. Gerade Twitter als globale Relais-Station politischer Diskussion hat dies mehr als eindrucksvoll bewiesen.
„Das Wetter ist toll. Viele Grüße!“
An dieser Stelle können Leser durchaus die Frage in den Raum stellen, wie politische Landschaften westlicher Industrienationen heute aussähen, wenn Friedhelm Hillebrand, in den Achtzigern Ingenieur bei der Deutschen Bundespost, das Zeichenlimit des Short Message Services im Rahmen der GSM-Standardisierung nicht auf 160 Zeichen fixiert hätte (im Studium der Nachrichtentechnik hatte er als junger Mann gelernt, dass die Inhalte vieler der zu der Zeit versandten Postkarten auf genau diese Zeichenlänge kamen). Wir werden es nie erfahren.
Übrigens, es besteht keine Chaosgefahr, sollten soziale Netzwerke ihre Zeichenlimits liberalisieren. Die allgemeine Übersichtlichkeit wird aller Wahrscheinlichkeit nicht abnehmen. Twitter hatte 2017 im Zuge der Umstellungen selbst Untersuchungen dazu durchgeführt und herausgefunden, dass die meisten Nutzer mitnichten das neue Zeichenlimit bis zum Ende ausreizten:
„We – and many of you – were concerned that timelines may fill up with 280 character Tweets, and people with the new limit would always use up the whole space. But that didn’t happen. Only 5% of Tweets sent were longer than 140 characters and only 2% were over 190 characters.“
Doch diese Option, bei Bedarf die eigenen Thesen in Ruhe erläutern zu können und Hintergründe zu beleuchten, ist so immens wichtig in diesen Tagen. Und ich denke, in den meisten Fällen der Diskursteilhabe braucht es dafür nicht einmal mehrseitige Abhandlungen: Vielleicht sind 1.000 Zeichen ein angemessenes Limit in politischen Gesellschaften des Jahres 2024. Oder 2.000. Weiß ich nicht. Aber es sind auf jeden Fall mehr als Twitters 280 Zeichen oder die miserablen 300 Zeichen, die derzeit Bluesky seinen Nutzern einräumt.
Und bis dahin müssen wir uns eben gefährlich kürzer fassen. Oder uns mit ausgestreckten Armen auf wackeligen Thread-Stegen bewegen („1/X“). Mit Screenshots geschriebener Texte arbeiten. Oder halt wieder mehr bloggen.
Teaser-Foto: Jo (Flickr) CC BY-NC-SA 2.0 DEED
1 Kommentar
Kommentare sind geschlossen.